Eine der aufgestoßenen Türen führte in einen kleineren Eckraum, offenbar ein Büro. Eine große schwarzhaarige Frau erhob sich vom Tisch, stellte sich den Polizisten in den Weg: Tamara. Wie immer umgab sie diese Aura einer ganz eigenen Autorität und Würde, ihr ruhiger starker Blick wirkte für die hereinstürmenden Polizisten einen Moment wie eine Wand.
„Dies ist mein Haus,“ sagte sie. „Sie haben keine Erlaubnis hier einzudringen.“
„Befehl vom Einsatzleiter.“ Der eine der zwei eingetretenen Polizisten hob zackig die Hand an den Uniformhelm. „Sagen Sie uns einfach, wo sich die Bande versteckt hält.“
In diesem Moment kamen Schreie vom Treppenhaus. Ein Polizist rief Verstärkung heran. Offenbar bereits ein Handgemenge. Die zwei Polizisten verließen das Büro.
Tamara hatte mich bemerkt. Sie lächelte kurz und freundlich.
Ich zeigte auf mein Aufnahmegerät.
Tamara kam ein paar Schritte näher. „ Kein geeigneter Tag für ein Interview...“
„Gilt es Ihnen? Ihrer Station?“ wollte ich wissen.
Tamara schüttelte den Kopf.
Vom Treppenhaus kamen wieder Schreie. Man hörte lautes Poltern, Flüche, Kampfgerangel.
Tamara ging an einen Seitenschrank, holte eine schmale Mappe hervor und entnahm ihr einen größeren Umschlag.
„Sie haben mir mehrmals diese anderen Fragen gestellt.
Hier gebe ich Ihnen etwas. Es ist eine Karte darin. Ich bitte Sie, halten Sie den Umschlag so verwahrt, dass kein anderer ihn öffnet. Und bitte haben Sie auch selbst Geduld ihn zu öffnen. Es steht eine Jahreszahl auf dem Umschlag.
Sie werden eine weitere Zeit brauchen, um die Karte zu entschlüsseln. Wenn es Ihnen gelungen ist, wird es Ihnen eine große einmalige Chance eröffnen.“
Sie reichte mir den Umschlag.
Der Lärm im Treppenhaus nahm zu.
Wir traten beide hinaus.
Ein noch jüngerer Mann mit hartem, bitterem Gesichtsausdruck hatte auf der Treppe einen jungen Polizisten in seine Gewalt gebracht. Er presste ihm seine Pistole gegen die Schläfe.
Der Versuch einer Geiselnahme.
Drei weitere junge Männer, alle mit übernächtigten Gesichtern, standen hinter ihm auf der Treppe, jeder eskortiert von zwei Polizisten.
Einer dieser drei Männer war Anthony.
Die Situation eskalierte. Einer der Polizisten schoss. Der Mann mit der Pistole erwiderte das Feuer.
Anthony mischte sich ein. Offenbar wollte er vermitteln. Er hatte das völlig Aussichtslose der Lage erkannt. Er drängte nach vorn. Da traf ihn selbst ein Schuss.
Ich sah, wie er mit schmerzverzerrtem Gesicht das Treppengeländer umklammerte, dann taumelte er auf den Boden.
Blut quoll ihm aus dem Mund.
Tamara trat an die Treppe. Kniete bei Anthony nieder und griff seine Hand. Anthony versuchte ihr etwas zu sagen, doch es kam nur noch ein Röcheln.
Nach zwei Minuten heulte die Sirene eines Krankenwagens. Anthony wurde auf eine Trage gelegt und in den Wagen transportiert. Tamara nahm bei ihm Platz.
Die anderen Männer hatten jetzt jeden Widerstand aufgegeben. Man führte sie in Handschellen ab.
Als ich selbst die Klinik erreichte, teilte man mir mit, dass Anthony seiner Schusswunde erlegen sei.
Die Sozialstation blieb während der kommenden Tage geschlossen.
Keiner konnte mir sagen, wo Tamara zu treffen sei.
Durch eine langjährige Mitarbeiterin erfuhr ich endlich etwas über die Hintergründe des ganzen Geschehens:
Der Schlag der Polizei richtete sich nicht gegen die Sozialstation sondern gegen eine Gruppe von Männern, die sich darin verschanzt hatten. Ein Entführungsfall. Ein über Tage geführtes Erpressungsspiel. Auch Anthony war verwickelt darin.
Die Geschichte einer kriminellen Verstrickung, die mit einer Hinterziehung begann und sich zusammenballte in der Art eines Unwetters, aus dem es für alle Beteiligten kein Entrinnen mehr gab.
Über den Verbleib Tamaras konnte mir auch ihre enge Mitarbeiterin nichts sagen. Doch Tamara hatte ihr bereits vor Wochen einen Notfallplan überlassen, wie die Station auch ohne sie weiter geführt werden konnte.
Tamara war unersetzbar. Ich nehme hier vorweg, dass die Station nach Tamaras Verschwinden nur noch zwei Jahre bestand. Schon nach Monaten wurde sie wesentlich verkleinert, schließlich wurde sie ganz geschlossen.
Ich kehre zu meinem Bericht über die geheimnisvolle Insel zurück.
Wir befanden uns in dem imponierenden Hauptgebäude, im zentralen Versammlungsraum. Wir hatten Tamara und Anthony wiedererkannt.
Tamara kam auf uns zu – eher schien sie verjüngt als gealtert, mehr als ich es in Erinnerung hatte, war sie von Atem verschlagender Schönheit und Anmut. Vor allem in den Augen lag eine ungewöhnliche Strahlkraft. Das Gesicht durchzog weiter ein Lächeln – ruhig und sanft, ein Lächeln, das hier eigentlich nur ein „Dauerzustand der Seele“ war, wie es schien.
„Wir wussten, dass es der Zeitpunkt war,“ sagte sie.
„Ihr seid eingetroffen.
Ich heiße euch herzlich willkommen – Dich - und Patrick, den Musiker.“
Sie verneigte sich zu uns beiden in sanftem Respekt.
„Patrick – er war gleichfalls ein enger und guter Freund von Anthony, wie wir wissen.“
Mein Blick schweifte zu dem etwas ferneren Tisch. „Anthony lebt?“
Tamara lächelte: „Du hast ihn bereits erkannt?
„Welcher Ort ist das hier?“ fragte ich.
„Du hast die Karte.
Du kennst den Namen.“
Ich zog die Karte aus meiner Jacke.
„Sankospia.
Trotzdem: Wo sind wir hier?
Ist dies eine von Menschen bebaute Insel?“
Tamara wiegte den Kopf. „Warte noch.
Es wird Schritt für Schritt geschehen.
Du wirst viele Erklärungen brauchen.“
Ich fragte, ob ich Anthony sprechen könne.
„Gewiss,“ sagte Tamara. „Er freut sich gleichfalls auf ein Zusammentreffen.
Doch auch damit habe noch etwas Geduld.“
„Anthony lebt.
Was ist damals tatsächlich geschehen?“
„Er wird es dir selbst erzählen.
Wollt ihr mir zunächst für einen kleinen Rundgang in den Garten folgen?“
Ich nickte, ebenso Patrick.
Wir gingen hinaus.
Betraten wieder den Garten.
Doch etwas Seltsames war geschehen.
Schien es mir eben noch Mittag zu sein, so war es nun früher Abend geworden.
Der Garten lag im Glanz einer roten Abendsonne. Er funkelte voll geheimnisvoller Farben.
Tamara ging uns voran.
Sie schritt direkt auf die beiden Löwen zu. In der Tat waren es Tiere von ungewöhnlicher Größe, ausgewachsenen Stieren ähnlich.
Sie machte eine wie grüßende Geste und streichelte ihnen die Mähne. Die Löwen leckten ihr dabei die Hand. Bei aller Majestät – sie hatten auch etwas Katzenhaftes, Verspieltes, die Streichelgesten waren ihnen willkommen.
Jetzt sprangen die grünen Äffchen heran.
Nach wenigen Sekunden saßen zwei auf Tamaras Schultern, eines schließlich sogar auf ihrem Kopf.
Sie nannte die kleinen grünen Tiere mit Namen, hob sie abwechselnd ganz an ihr Gesicht, rieb Nase an Nase, die kleinen Wesen quietschten vor Freude und Übermut.
Jeder in der Gruppe der Äffchen wollte die eigene Begrüßung, das Nase-an-Nase-Reiben, es schien eine eingewöhnte Zeremonie zu sein. Dann sprangen – bis auf zwei, die auf ihrer Schulter hocken blieben – alle wieder davon.
Tamara ging weiter voran, auf den dicht bewachsenen Teil der Insel zu.
Wir folgten jetzt einem schmalen Pfad .
„Wir haben einen ‚Meister’ hier,“ sagte Tamara. „Ich nenne ihn so für euch, obwohl wir ihn nicht so nennen. Doch er besitzt Fähigkeiten, die über das, was wir, die anderen Bewohner der Insel, können, hinausgehen. Neben ihm gibt es noch zwei andere dieser ‚Meister’.
Doch dieser eine, der mir sehr nahe steht, will euch kennen lernen und dann eine Entscheidung treffen.
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