Um welche Geheimnisse?
Nein, dies ist keine menschliche Insel.
Schon diese ungewöhnlichen Pflanzen und Tiere…
Ein singender Felsen…
Und die sonderbare Geometrie dieser Gebäude, ihr Material…
Doch Tamara ist hier.
Und Anthony.
Nein, wirkliche Furcht spüre ich nicht.“
Wir schwiegen nur wieder kurz.
„Tamara -: Es ist sonderbar, wie ich sie plötzlich erneut erlebe,“ sagte ich. „Irgendwie ist es genau die Frau, die ich traf, als ich das erste Mal ihre Sozialstation besuchte.
Zugleich ist sie noch etwas anderes. Etwas das mir damals nicht völlig verborgen blieb, doch das ich in keiner Form wirklich hätte beschreiben oder benennen können.“
Meine Gedanken schweiften zurück.
Zu Tamaras Sozialstation in New York.
Zu den Momenten unserer Begegnungen.
Ich möchte an dieser Stelle einfügen, wie ich mit Tamara erstmals Bekanntschaft machte.
Ich erwähnte bereits, dass ich mehr zufällig von dieser Station erfuhr, die einem ungewöhnlichen Konzept folgte und die, wie ich heute sagen kann, damals der Zeit in vielen Dingen voraus war.
Ich ahnte nicht, dass ich dabei auf Anthonys Schwester treffen würde, die nicht mehr den Familiennamen trug.
Anthony und ich hatten uns damals etwas aus den Augen verloren. Das sollte sich mit diesem Tag wieder ändern.
Ich interessierte mich einfach als Reporter für dieses Projekt.
Unbeabsichtigt traf ich etwas vorzeitig ein und musste zunächst mit einer Mitarbeiterin der Station vorlieb nehmen, was ich doch bald nicht bereute. Es war eine ältere etwas mollige, sehr hilfsbereite und redselige Dame, die sich sofort anbot, mich herumzuführen. Sie hieß Schwester Eveline, es war Tamaras immer dienstbereite zweite Hand auf dieser Station.
Ihre Wangen glühten vor Eifer, während sie mich mit den einzelnen meist bunt bemalten Baracken und Werkstätten auf dem Gelände hinter dem Eingangsgebäude vertraut machte. Ich habe den Klang dieser Stimme noch gut im Ohr, und so will ich sie hier auch selber sprechen lassen, bevor ich mich mit einem Bericht abmühe, der doch nur trockener ausfallen kann als ihrer.
„Die Leute erledigen hier kostengünstig Reparatur- und Ausbesserungsarbeiten jeder Art – an Hausgeräten, an Möbeln, an elektrischen Apparaten, an kleineren Fahrzeugen. Eigentlich alles, was repariert werden kann, kommt hier an und wird auch in kurzer Zeit repariert. Auf alles gibt es anschließend eine Garantie. Wenn etwas nachher nicht wirklich funktioniert, stehen die Leute gleich wieder mit einer Reklamation vor der Tür. Und deshalb kommt es auch praktisch nie vor.
So etwas spricht sich herum. Die Leute, die hier arbeiten, haben über Aufträge nicht zu klagen.“
Überall vor und in den Baracken und Werkstätten sah ich Leute arbeiten, jüngere und ältere, Männer so wohl wie Frauen. Sie reparierten Fahrräder und Motorräder, erneuerten Polster oder besserten sie aus, reparierten Puppen und Kinderspielzeug. Es herrschte ganz offensichtlich eine fröhliche Stimmung.
„Ein Schlag, wenn auch nur ein kleiner,“ fuhr Schwester Eveline fort, „gegen die Großproduzenten und Warenhäuser mit ihrer Wegwerfmentalität und ewigen Produktionssteigerungsideologie. Ein Großteil dessen, was wir üblicher Weise entsorgen, gehört noch lange nicht in den Müll. Viele Leute in diesem Viertel begreifen das. Sie sehen, dass sie viel sparen. Und sie begreifen sogar, dass sie dabei an Lebenswert und Lebensfreude nichts einbüßen.
Und die Menschen, die hier arbeiten – alles Leute, die oft seit Jahren traurig als Arbeitslose herumsaßen – haben ihre Lebensfreude wieder entdeckt. Und ihr Selbstwertgefühl. Wissen Sie, was das Schönste ist? Wenn die Kunden kommen und ihre Reparaturwünsche mit den Leuten, die hier arbeiten, besprechen. Denken Sie an den Unterschied: Jemand kommt, um eine alte Puppe reparieren zu lassen oder eine alte Kommode. Der Mann oder die Frau, die nun reparieren, kennen genau das Gesicht – sie wissen, für wen sie es tun. Das löst etwas aus: Sein Bestes zu geben und später die Freude auf diesem anderen Gesicht zu sehen. Dies ist der Unterschied. Viele, die immerhin Arbeit haben, sitzen in einer Fabrik und stanzen gesichtslose Einzelteile. Sie erfahren nie, wer sich daran freuen wird. Und so bleibt auch ihre eigene Freude schattenhaft und grau. Ihr ganzes Interesse gilt ihrer Lohntüte. Eine schließlich armselige Freude.
Da gibt es vieles, das wir in unserer automatisierten Wohlstandgesellschaft vergessen haben: Wie Freude entsteht.
Und dass nicht das Geld sondern dass die Freude das wichtigste ist.“
Einer der Arbeiter drückte beim Anblick Evelines jetzt verschämt seine Zigarette aus.
„Ja. Wir haben in den Baracken ein Rauchverbot. Zweimal brannte eine Baracke nieder, weil einer der Leute dort unachtsam eine Zigarette liegen ließ.
Wir haben schließlich darüber abgestimmt. Die Leute selbst waren mehrheitlich dafür, dass jedes Rauchen während der Arbeit verboten wird.
Das ist auch so ein Punkt: Die Leute sind im Prinzip sehr vernünftig. Was man erklärt und nachher gemeinsam in Ruhe aushandelt, das führt auch zum Zuspruch und zur Abstimmungsmehrheit. Man muss solche Gesetze nicht von oben verordnen. Die Leute, wenn man sie erst zum Denken bringt, tun es selbst.“
„Wird alles so entschieden – alles in gemeinsamer Abstimmung der Leute hier?“ fragte ich.
„Fast alles, ja.
Für Tamara ist es ein Prinzip. Sie mag das Wort ‚Chefin’ nicht. Sie sieht sich nur als ‚Verwalterin’. Und sie vermittelt den Leuten auch das Gefühl, dass sie es tatsächlich so meint. Dafür liebt man sie hier.“
Sie führte mich zu einer weiteren Baracke, die voller Kühlschränke stand.
„Schauen Sie hier: ein neues Projekt. Es steht erst am Anfang. Leute von der Station sammeln an jedem Abend das nicht verkaufte Essen ein – speziell bei den Bäckereien den liegen gebliebenen Kuchen, die Torten, die Brötchen. Alles was üblicher Weise sonst abends entsorgt wird. Doch auch bei den Gemüsehändlern werden sie vorstellig. Sie sammeln das Angewelkte, alles was dem Anspruch üblicher Kunden nicht mehr genügt und was doch noch gut essbar ist. Sie bringen es in Obdachlosenasyle und Altersheime. Oder wir verzehren es hier. Kuchen vom Vortag – es sind oft ganze Kuchenberge und sie bieten Gourmetfreuden in Fülle.“
Schwester Eveline ging auf eine längere Baracke zu, die eine ästhetisch besonders reizvolle Bemalung hatte, es standen Bildhauerarbeiten so wie geschnitzte Holzfiguren davor, einige offenbar noch in Arbeit.
„Schauen Sie! Wir haben auch einige Künstler unter uns, sie arbeiten in der Regel wie alle anderen in den Werkstätten. Doch sie nehmen sich ihre ‚Künstlertage’, und dann schaffen sie solche kleinen und manchmal auch schon sehr beachtlichen Kunstwerke.“
Sie streichelte liebevoll über eine der Holzplastiken, einen Wolf, auf dessen Rücken sich genüsslich eine Katze ausstreckte.
„Die Kunstwerke stehen zum Verkauf und manchmal, freilich nicht oft, werfen sie bemerkenswerte Gewinne ab. Ich sagte ihnen schon, dass alle Gewinne hier in der Station gleich verteilt werden? Das heißt: Wenn es der Gemeinschaft gut geht, verdient jeder einzelne gut.
Bei einem Kunstwerk freilich gibt es ein paar Sonderregelungen und es gibt Sonderprämien. Und auch wer handwerklich und bei Reparaturen Beachtliches leistet, kann mit Sondervergütungen rechnen. Auch das wird in gemeinsamen Abstimmungen festgelegt.“
Sie öffnete die Tür. Ich blickte in einen Raum, der mit weiteren Bildhauerarbeiten gefüllt war – wie auch mit einer Reihe von Staffeleien. Überall an den Wänden hingen Bilder, oft die Wand bis zum Boden bedeckend.
„Immer wieder gibt es hier Leute, die plötzlich ihr malerisches und bildhauerisches Talent entdecken. Manche leisten Beachtliches – ich könnte mir einige ihrer Werke sogar in den öffentlichen Museen vorstellen, jedenfalls müssten sie den Vergleich mit anderen Werken zeitgenössischer Künstler nicht scheuen.
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