War auch die Leinwand verschwunden?
Diese Bilder waren offenbar nicht nur drei-dimensional, man konnte sich auch ganz real in sie hinein bewegen.
Doch Patrick und ich zogen es vor, auf den nun eingenommenen Plätzen zu verharren.
Es bot sich uns ein Panorama von faszinierender Klarheit, dies auch an den Seiten, ununterscheidbar von jeder Realität.
Am Ende des weitläufigen Prachtgartens erhob sich jetzt ein Palast.
Es war kein Bauwerk von überwältigenden Ausmaßen, doch die Fassaden und Dächer waren prunkvoll gestaltet, der Baustil zeigte einen orientalischen Einschlag. Die Dachgiebel schmückten mehrere goldene Reiher.
Zwei Gestalten waren aufgetaucht: ein junger Mann und ein junges Mädchen, er vielleicht achtzehn, sie etwa sechzehn Jahre alt. Sie gingen Hand in Hand. Doch in ihren Bewegungen lag noch etwas wie Scheu. Nur flüchtig tauschten sie dann und wann einen Blick. Sie näherten sich einer steinernen Bank und nahmen dort Platz, weiterhin die Hände haltend.
Es war ein warmer Frühlingstag, einige Bäume und Sträucher blühten. Ein orange sich erhebender Mond spiegelte sein Licht auf den Palastkuppeln.
Plötzlich ertönte eine Stimme.
Es schien die des „Meisters“ zu sein.
Wir konnten sie nicht wirklich lokalisieren und wieder erschien es uns, als ob die Stimme zugleich in unserem eigenen Kopf spräche.
„Das Schauspiel beginnt.
Die Geschichte, die es euch erzählt, spielt in einem euch fernen Land dieses Planeten; in einer schon einige Jahrhunderte zurückliegenden Zeit.
Es ist die Geschichte einer Fürstentochter im alten Aserbeidschan, wie dieses Land bei euch heißt. Ihr Name ist Tansila. Und es ist die Geschichte eines jungen Mannes mit dem Namen Archani. Schaut genau. Sie sind euch beide nicht fremd.
Beide sind sie, gehütet und gut umsorgt, gemeinsam aufgewachsen am Fürstenhof und jede Trennung des einen vom andern erschiene ihnen undenkbar. Sie haben sich geliebt wie enge Geschwister; jetzt lieben sie sich, wie Liebende sich zu lieben beginnen. Beide sind mit Schönheit und mit einem klaren Verstand beschenkt. Die mädchenhafte Anmut, die Tansila verstrahlt, hat am Fürstenhof nichts Vergleichbares. Archani, der Sohn des ersten Ministers am Hof, strotzt vor jugendlicher Kraft.
Beide sind sie, in diesen Jahren der Jugend, ganz offen zum Leben, ganz offen zum Glück.
Nichts wird verbleiben in diesem Zustand des Glücks.
Es wird Schauspiele geben von Lüge und Hinterhalt, von Intrige, von Neid und Verrat. Es wird Schauspiele der Verrohung und Gewalt geben.
Es wird Trennung geben. Wege der Demütigung, bittere Einsamkeit.
Elend und Verzweiflung, langjährige Gefangenschaft und beginnenden Wahn.
Schauspiele von Vergeltung und Rache. Schauspiele immer neuer Verwundungen, grausamer Schmerzen.
Unversöhnlicher Feindschaften.
Nichts wird verbleiben im Glück.“
Das Schauspiel begann.
Ich erwähne hier wieder ein besonderes Phänomen, das unsere Wahrnehmung der Bilder und Worte begleitete.
Es gab eine Ähnlichkeit zu manchen Formen des Traums, die sich dadurch auszeichnen, dass wir im Anblick eines sich vor uns entfaltenden Szenarios die Zuordnungen intuitiv erfassen, ohne eine uns in Worten gegebene Erklärung. Manchmal sind es ganze Vorgeschichten, über die wir augenblicklich in Kenntnis gesetzt sind, und alle gesprochenen Worte wie alle Gesten haben eine geheimnisvolle zweite Dimension, als begriffen wir auch das hinter den Worten und Gesten Gedachte.
Und immer wieder erfolgte, wie in einem üblichen Film, auch ein Zeitsprung – mit einem sich von einem Moment zum anderen verwandelnden Szenario.
Wo diese Zeitsprünge stattfanden, habe ich sie für Sie, den Leser, im fortlaufenden Text durch eine neue Überschrift markiert.
Der Palastgarten lag weiterhin im Licht der Abendsonne. Vom Palast her tönte durch ein geöffnetes Fenster Balalaika-Musik.
Das Mondlicht versilberte die Blätter und Zweige. Man hörte das Rauschen der Springbrunnen.
Der junge Mann und das junge Mädchen saßen Hand in Hand, eng aneinandergeschmiegt.
Jetzt sollte sie die Augen schließen: Er wollte sie ein erstes Mal auf den Mund küssen.
Plötzlich ein Knacken im Dickicht. Ein kleiner etwa achtjähriger Junge war den beiden neugierig nachgeschlichen.
Der junge Mann sprang auf ihn zu, schnappte ihn sich, schüttelte ihn in der Luft.
„Dein kleiner Bruder Bentilow…
Was machen wir mit ihm?“
Der kleine Junge schien wenig eingeschüchtert. Er entschuldigte sich, während er wohl doch nur flunkerte: Er habe nur eben in die Büsche gewollt. Das könne doch wohl nicht verboten sein?
Der junge Mann ließ ihn weiter in der Luft zappeln.
Da kam aus Richtung des Palasts ein Rufen: „Tansila!“
Eine junge Frau, ein Kammermädchen, kam durch den dämmrigen Abend näher.
„Archani, man ruft mich.
Großmutter will mich sprechen.“
Archani, der junge Mann, verzog erneut unwillig das Gesicht. Noch immer hielt er den zappelnden Bentilow in der Luft. Das Kammermädchen war herangekommen.
Wirklich kam sie im Auftrag der Großmutter, die das junge Mädchen, Tansila, sprechen wollte.
Tansila machte eine bedauernde Geste und entfernte sich mit dem Kammermädchen.
Archani hatte Bentilow, ihren kleinen Bruder, inzwischen abgesetzt.
Der hatte unverändert einen selbstbewussten Ausdruck auf dem Gesicht. Anstatt sich ebenfalls zu entfernen, nahm er neben Archani Platz.
„Ihr beide liebt euch, nicht wahr?“
Er blinzelte, frech und zugleich ein bisschen mitleidig.
„Jeder im Palast hier weiß es.
Auch ich weiß es.
Aber ich weiß auch: Du kannst niemals wirklich ihr Geliebter sein. Jedenfalls nicht ihr Mann.“
Archanis Gesicht verdüsterte sich. „Welchen Unsinn redest du da?
Und was geht dich das alles überhaupt an?“
„Sie ist meine Schwester – Tansila.
Es sollte mich nichts angehen, wenn sie verliebt ist?
Doch du kannst sie nicht heiraten.
Die alte Glonka sagt es.
Du bist nur der Sohn des ersten Ministers. Das ist zwar auch etwas. Doch um Tansila zur Geliebten zu haben, musst Du aus einer Fürstenfamilie sein, so wie Tansila. So wie ich.
Du darfst sie zwar küssen, vielleicht. Du darfst sie auch manchmal umarmen, vielleicht. Doch heiraten kannst du sie nicht.“
„Alles dummes Geschwätz…“ In Archanis Stimme lag jetzt unüberhörbar ein Grollen. „Geh dich erst mal auspissen, kleiner Wichtigtuer und fürstlicher Knirps.“
Er gab ihm sanft einen Stoß auf die Büsche zu.
Doch sein Gesicht zeigte Betroffenheit.
Bentilows Sätze hatten einen Punkt berührt, den er wohl kannte und von dem er wusste, dass er eine schmerzhafte Barriere zwischen ihm und Tansila bedeutete.
Auf Bentilows Gesicht überwog jetzt der Ausdruck von Mitleid.
„Sei nicht traurig.
Immerhin kannst du Minister werden, so wie dein Vater. Also kannst du auch immer hier im Palast bleiben und sie sehen und sie auch noch manchmal umarmen. Doch ein anderer Mann wird ihr Mann sein. Ein Fürst eben. Das ist das Gesetz.“
Ein längeres Schweigen.
„Morgen ist Jagd,“ sagte Bentilow schließlich. „Wirst du mit reiten? Ich reite mit!“
Archani zeigte keine Reaktion.
„Auch Sligork und Jarscho, unsere beiden Cousins, die gestern gekommen sind, werden mit reiten.
Sie haben gewettet, wer von ihnen die meisten Wildscheine abschießen wird.
Du solltest mit reiten und ihnen zeigen, dass du noch besser schießen kannst als sie beide.“
Um Archanis Mundwinkel lief ein Zucken, dann schüttelte er leicht den Kopf.
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