Der Steinsche Agent Emanuel Hirsch traf mitten ins Chaos hinein in Lazy ein. Kulka und Genossen hatten ihre Forderungen formuliert, ein Ultimatum gestellt und nach abgelaufener Frist den Streik ausgerufen. Wie die Steins vorausgesehen hatten, reisten die Gäste innerhalb weniger Stunden ab. Die örtlichen Transportunternehmen waren überfordert, in geregelter Manier die Gäste zum Bahnhof zu bringen. Panische, hysterisch kreischende Bürgerpüppchen, geschniegelte, steife Herren rannten zu Fuß zur Bahn, hastig zusammengeschnürtes Gepäck fand sich auf der Straße, Koffer brachen auf und gaben den Inhalt frei. Man stolperte, man fiel, man brüllte und geiferte. Der Spießer von Lazy schrie „Hilfe! Revolution! Rette sich, wer kann!“, knallte das Haustor zu und verriegelte die Fensterladen. Das Hotelpersonal hielt sich ruhig hinter Antoni. Sie streikten! Sie hatten auch Freude daran. Endlich unternahmen sie mal was.
Agent Emanuel Hirsch betrat das Haus und fragte nach der Hausdame. Emilie war nirgends zu finden. Da bat der Mann um ein Zimmer. Das Mädchen am Tresen wies ihn zurecht: „Hier wird aber nicht bedient.“ Der Hirsch sicher und freundlich: „Ich will nur ein Zimmer, bedienen kann ich mich selbst.“
Er bekam den Schlüssel von Nummer dreizehn. Das Hauspersonal besah sich mit belustigender Genugtuung den Abzug der Reichen und Schönen, dann setzten sie sich in den Gastraum und hielten gelangweilt Streikwache. Nichts ereignete sich. Die Stunden dehnten sich. Etliche gingen auf ihr Kämmerchen, Antoni und ein Laufbursche hielten die Stellung. Der nächste Tag kam und ging. Es ereignete sich wieder nichts. Der Herr von Nummer dreizehn strich ab und zu durchs Haus, ging zu den Mahlzeiten in die Bahnhofswirtschaft und verhielt sich ansonsten unauffällig.
So verging eine Woche. Keine Nachricht, keine Post. Emilie erschien im Gastraum. Sie sah und hörte ihren Antoni nicht. Stumm drückte sie sich an den Streikenden vorbei zum Büro. Nach einer Weile kam sie wieder heraus und fragte im üblichen Geschäftston: „Ist denn keine Post gekommen? War der Geldbriefträger noch nicht da?“ Man schüttelte den Kopf. Emilie wurde nervös. Um diese Zeit war doch immer der Briefträger mit dem Geld gekommen. Er brachte wöchentlich einmal das Geld, mit dem sie die Lieferanten bezahlen musste. „Das verstehe ich nicht“, sagte Emilie laut vor sich hin.
Der Herr von Nummer dreizehn trat hinzu und sagte freundlich: „Ich verstehe schon. Wenn ich erklären darf?“ Er zog einen Stuhl heran und setzte sich zu der Gruppe. Emilie stand etwas abseits. Alle schauten gespannt auf den Unbekannten. „Das Haus ist mit sofortiger Wirkung geschlossen. Mein Name ist Emanuel Hirsch. Die Steins haben mich bevollmächtigt, Ihnen mitzuteilen, dass sie das Hotel aufgeben werden.“
Betretenes Schweigen, vages Begreifen, aufkommende Tränen, mühsam niedergerungene Wut, Erstaunen, Erschütterung zeichneten die Gesichter der Leute.
Antoni raffte sich zu Widerspruch auf: „Wer berechtigt Sie?“ Der Herr nahm gelassen einen Briefbogen aus der Tasche, faltete ihn auf und ließ das Blatt auf den Tisch segeln. „Vollmacht“ war weithin sichtbar zu lesen. Den Rest konnten sie sich denken. Keiner zuckte. Der Agent stand auf und sprach jetzt knallhart: „Ich bitte Sie, innerhalb von, nun sagen wir, in drei Stunden, das Gebäude zu räumen. Sie befinden sich auf fremdem Besitz. Ihre persönlichen Sachen dürfen Sie mitnehmen. Lohnforderungen können nicht geltend gemacht werden. Sie haben ein Woche lang nicht gearbeitet.“ Erschlagen zog das kleine Trüppchen ab. Hirsch begab sich zum Büro. In der Tür sagte er streng: „Frau Kulka, zu mir! Wir gehen noch die Bücher durch.“ Emilie gehorchte.
Emilie stand furchtsam neben der Tür. Der Agent schritt selbstsicher durch den Raum. Er atmete durch und war deutlich erleichtert. Die Sache war glimpflich abgegangen. Er war auftragsgemäß die Leute losgeworden. Es hätte zu Tumult kommen können. Das war ihm völlig klar gewesen. Auch das hätte er sicher mit Hilfe der Polizei zurechtgebogen. Seine Spaziergänge hatten ihn regelmäßig in die Wachstube am Rathaus geführt. Der nötigen Schützenhilfe verstand er sich mit einer Finanzspritze zu versichern. Nun war die Sache rasch und stillschweigend erledigt. So war es gut. Ohne viel Aufheben. Der Agent wendete sich zu Emilie um und redete freundlich, langsam wie zu einem Kinde: „Also, Frau Kulka, da sind Sie ja in eine böse Sache reingeraten. Das hätte ich nicht von Ihnen gedacht. So wie Sie mir von den Steins beschrieben wurden, sind Sie doch eine geschäftstüchtige, fleißige, ehrliche und vor allem umsichtige Frau.“
So wie Emilie den warmen Ton wahrnahm, brach sie in Tränen aus. Ihre Aufregungen der letzten Tage lösten sich in einem Sturzbach. Der Mann reichte ihr ein Taschentuch und geleitete sie am Arm zu einem Stuhl. „Nicht weinen, gute Frau. Wir werden uns schon einigen.“ Emilie schaute ihn von unten aufblickend an, schöpfte Mut, nahm sich zusammen und erhob sich diensteifrig: „Die Bücher. Ich will Ihnen die Bücher zeigen. Die sind alle in Ordnung.“
Er drückte sie auf den Stuhl zurück und sagte derb: „Um die Bücher geht es doch gar nicht!“ Der Ton fuhr Emilie messerscharf in die wunde Seele, und sie durchdachte blitzschnell: Der ist ja unberechenbar. Vorsicht! Sei auf der Hut, Emilie! Schon hatte sich der Agent wieder auf Freundlichkeit umgestellt. Emilie hörte: „Nun, mit Ihnen haben wir Folgendes vor: Nachdem wir das Pack aus dem Hause haben, werden hier Umbauten erfolgen. Zwei große Schlafsäle. Einer für Männer, einer für Frauen. Wir bauen ein Sanatorium auf.“
Hirsch entwickelte vor der Frau den Steinschen Plan. Über Geld sprach er nicht. Darüber war er nicht informiert und das ging Emilie ja auch gar nichts an. Als er sicher war, verstanden worden zu sein, änderte er erneut den Ton ins Grobe und fuhr gegen die Frau los: „Sie wissen es hoffentlich als familiäre Rücksicht und Gnadenbeweis zu schätzen, wenn die Steins Sie weiterhin hier als erste Wirtschafterin beschäftigen. Kost und Logis sind weiterhin frei. Kann ich der Familie Stein nun positiv berichten? Ja oder nein?“
Emilie zuckte zusammen und nickte zustimmend. Sie war froh, ihr Dach über dem Kopf zu behalten. Hirsch: „Sie sind entlassen. Ich fahre in wenigen Stunden nach Wien. Sie warten hier alles weitere ab.“
Emilie schlich zur Tür und blieb dort unsicher stehen. „Was ist denn noch?“, fragte der Agent barsch. Emilie: „Ich bin verheiratet. Mein Mann, der Antoni“, weiter kam sie nicht. Hirsch winkte großspurig ab: „Der kann bleiben. Aber treiben Sie ihm die Flausen aus dem Kopf!“
Emilie schlich in ihre Kammer, warf sich auf das Bett und weinte Tränen der Erlösung. Mitten in der Nacht spürte sie ihren Mann im Raum. Er war da. Sie hob die Decke auf, er schlüpfte zu ihr, sie legte ihren Kopf an seine Schulter und flüsterte: „Gott sei Dank, wir dürfen bleiben.“ Antonis verzweifelte Züge konnte sie im Dunklen nicht sehen.
Das Stammhaus der Familie Stein in Wien diente nur noch als Bürohaus. Mit den Jahren hatte sich das Gebäude für eine Doppelnutzung zu Wohn- und Geschäftszwecken als zu klein erwiesen. Zwar hatte man zwei angrenzende Grundstücke günstig erwerben können, den Bau erweitert, die Anzahl der Räume vermehrt und hinten einen kleinen Garten angelegt, aber insgesamt zog mit den vielen Besuchen von Agenten und Partnern, den ständigen Buchhaltern und Sekretären doch so viel Unruhe ein, dass die Steins ihren Wohnsitz nach außerhalb auf einen Landsitz am Ufer der Donau verlegten. Jeden Morgen ließ sich Arthur in die Metropole kutschieren und abends kehrte er auf das ruhige Anwesen zurück, es sei denn, wichtige Geschäfte hielten ihn in Wien auf. Dann nächtigte er im Stammhaus.
Olga und Ida kamen nie mehr in die Kaiserstadt. Sie kümmerten sich um das ländliche Hauswesen und verbrachten ihre Zeit mit schöngeistiger Erbauung. Das Geschäft lag gut in Arthurs Händen. Er hatte es zu schwindelerregender Höhe hinaufgebracht. Der noch nicht ganz dreißigjährige Arthur zählte zu den wichtigsten Oligarchen des österreichisch-ungarischen Imperiums. Arthur zeigte sich wie sein Kaiser gern in der Offiziersuniform der k. u. k. Monarchie. Schneidig, zackig, mit kurz abgehackten Formeln gab er seine Ratschläge und Anweisungen bekannt. Damit erzeugte er ein mildes Lächeln hinter vorgehaltener Hand bei seinen Partnern und Untergebenen, die sich ihre sprichwörtliche Wiener Gemütlichkeit zu Gute hielten.
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