Olga Stein kam verstaubt, verschwitz und müde in Lazy an. Mit Kutscher und Wagen war sie vom Bahnhof abgeholt worden. Ihr standen das beste Zimmer und ein Bad zur Verfügung. Als sie sich hergerichtet hatte, traf sie die Hausdame Emilie Stein im Büro. Die beiden Frauen waren etwa gleichaltrig. Emilie war von der kräftigen Statur einer Arbeitsfrau und Olga war das zarte Püppchen der Aristokratie. Olga führte folgende Rede: „Du willst uns also aufkündigen. Überleg es Dir gut! Mit Deiner Heirat wirst Du aus unserem Dienstverhältnis ausscheiden und ziehst mittellos auf die Straße. Was erhoffst Du Dir davon?“ Emilie hatte solchen Angriff nicht erwartet. Sie wollte doch nur gültige Papiere haben. Also antwortete sie: „Ich will gar nicht kündigen. Ich will nur den Mann Antoni Kulka heiraten. Und dann sind wir zweie, die hier schaffen wollen.“ Olga nahm den Faden auf und antwortete spitzfindig: „Dann wollt Ihr Euch also zu zweit auf unsere Kosten durchschlagen? Ist das so?!“
Emilie stockte der Atem. Das war der Gipfel der Unverfrorenheit! Wie konnte die nur so mit ihr reden? Durchfressen, durchschlagen, nassauern. Das gibt es doch gar nicht. Hatte sie nicht alles für die Firma Stein gegeben? Emilie stemmte sich gegen die anmaßende Art der anderen: „Mein Antoni und ich werden hier rechtschaffend wirtschaften. Nur darum geht es, um nichts anderes. Und ich will die ehrbare Frau bleiben, die ich schon immer war. - Also Heirat!“ Olga begriff schlagartig, dass Emilie eine fest im Leben stehende Frau war, mit der man einerseits rechnen musste. Andererseits dachte die Emilie gar nicht daran zu kündigen. Sie war treu ergeben. Wenn sie den angehenden Ehemann zu den gleichen Konditionen wie sich selbst ins Geschäft einbrachte, konnte die Firma Stein nur gewinnen. Olga lenkte ein: „Wenn Dein Mann hier arbeiten will, mag das gut gehen. Wir beschaffen Dir Papiere.“
Emilie war erleichtert. Sie strahlte. Olga fragte noch sicherheitshalber: „Und Ihr werdet jüdisch heiraten?“ Emilie nickte stumm. Olga war zufrieden. Das Haus würde also jüdisch bewirtschaftet bleiben und der jüdischen Gemeinde von monetärem Nutzen sein. Olga trat den Heimweg an. Emilie Stein und Antoni Kulka gaben sich im Spätherbst des Jahres 1895 vor der kleinen jüdischen Gemeinde in Lazy das Jawort.
Sowie Antoni Kulka realisiert hatte, dass er hier wie ein Haussklave gehalten wurde, stieß es ihm gallig auf. Bei allen Mühen der letzten Jahre, hatte er doch wenigstens immer seinen Lohn in der Hand gehabt und konnte darüber frei verfügen. So lieb ihm Emilies Bett war, sowenig mochte er diese völlige Mittellosigkeit. Das klagte er eines Tages seiner Frau. Die hielt ihm vor: „Was willst Du denn? Du hast doch alles.“ Kulka entgegnete: „Ich habe noch nie ohne Lohn gearbeitet.“ Emilie erwiderte: „Wir haben essen, schlafen und uns. Was, um Himmels Willen, willst Du noch?“ Da sagte Kulka eindringlich: „Mensch Mädel, ich will leben!“ Emilia konnte es nicht fassen. Was wollte der Mann? Der erklärte: „Leben. Leben ist doch mehr als nur arbeiten, essen, schlafen. Mädel, es gibt Bücher, Theater, herrliche Wälder. Man will lesen, sich freuen, wandern gehen. Du kannst mir doch nicht weiß machen wollen, dass das hier alles, dieser Reichtum, für den wir schuften, nur für die anderen da ist. Wo bleibt denn mein Anteil? Diesen Anteil würde ich mir gern kaufen. Kann ich aber nicht, weil ich keinen Lohn bekomme.“ Emilie schaute ihn ungläubig an. Er spürte, dass er nichts bewirkt hatte.
Sie gingen traurig, schweigend ihrem Tagwerk nach. Als es Abend war, hatte sich im Hotel herumgesprochen: Die Chefin hat Krach mit ihrem Kerl. Und obwohl das gar nicht stimmte, denn die beiden redeten ja nur nicht miteinander, bauschten die Klatschmäuler das Gerücht gehörig auf, so dass die Situation schließlich unerträglich wurde. Alles drängte auf Aussprache. Emilie rief in ihrer diensteifrigen Art zu später Stunde ihre Leute zusammen. „Hört“, hielt sie Rede, „damit hier keine Irrtümer umlaufen und morgen wieder alles seinen gewohnten Gang geht: Es gibt keinen Grund, sich das Maul zu zerreißen oder Unruhe zu stiften. Der Antoni und ich haben sicher Meinungsverschiedenheiten, aber es gibt keinen Krach, keine Krise, nichts Schlimmes ist passiert.“
Man schaute betreten beiseite, man war neugierig und eine Küchengehilfin sagte offen heraus: „Dann können Sie uns ja auch sagen, was los war.“ An Emilies Stelle antwortete Antoni: „Ich will nicht mehr ohne Lohn arbeiten. Aber hier schweigen alle wie die Dussel. Das ist die reinste Sklaverei!“
Unter Zimmermädchen, Küchenpersonal, Kellnern und Laufburschen brach zustimmender Tumult aus. Emilie wurde hochrot vor Entsetzen. Alles schrie, fluchte, krähte durcheinander. Einer verstand den anderen nicht mehr. Allmählich erkämpfte sich die hohe Stimme eines Zimmermädchens das Vorrecht, gehört zu werden.
Die anderen beruhigten sich. „Da hat der Antoni recht. Wo er recht hat, hat er recht. Jawohl. Wir arbeiten hier für einen Hungerlohn, können froh sein, überhaupt Arbeit zu haben. Fürs Alter oder eine Familie kommt nix rüber. Ich finde, wir sollten uns das nicht länger gefallen lassen. Wir stellen unsere Forderungen auf. Und wenn das nicht fruchtet: Streik!“ Das letzte Wort schlug wie eine Bombe ein. Angestaute Wut, erlittene Demütigung, Kampfeslust, auch Angst entluden sich in einem noch größeren Lärm denn zuvor. Emilie schlug die Hände vors Gesicht und warf sich schräg über ihr Schreibpult. Das Personal veranstaltete einen wahren Kriegstanz. Emilie jammerte: „Sie ruinieren mir das Hotel.“ Sie wurde nicht gehört.
Im Stammhaus der Steins in Wien fand Krisensitzung statt. Olga sagte: „Sie ruiniert mir das Hotel.“ Arthur meinte: „So schlimm kann es doch nicht gleich werden.“ Ida fluchte: „Man hätte sie gleich rauschmeißen sollen!“ Olga zischte: „Was weißt Du denn?“ Arthur bat sich Ruhe aus und unterbreitete dann seinen Plan: „Lasst sie ein paar Tage streiken. Bis unser Agent eingewiesen und vor Ort handlungsfähig ist, vergeht sowieso etwas Zeit.“ Ida: „Emilie fliegt!“ Arthur: „Nein. Emilie bleibt! Ich stelle mir das so vor“, entwickelte er weiter, „also das Personal streikt. Die Gäste reisen ab. Sowas spricht sich rum. Wir können ja auch dafür sorgen, dass es sich schnell herumspricht. Buchungen werden storniert. Das Haus steht leer. Keine Gäste, kein Personal. Logisch.“ Olga und Ida lauschten gespannt. Er erläuterte weiter: „Jetzt haben wir, was wir wollen. Die Leute werden entlassen beziehungsweise gehen von selbst. Es fließt ja kein Geld mehr rein. Wieder logisch.“
Olga fragte: „Und was hast Du nun gekonnt? Das Haus steht leer.“ Arthur voller Eifer: „Mädel, Du musst die Zeitung lesen und ein bisschen die Ohren aufsperren. Passt auf: Wir machen ein Sanatorium auf. Ganz konkret ein Sanatorium für Lungenkranke. Wir investieren ein bisschen ins Gesundheitswesen.“
Olga lehnte sich zurück und schimpfte: „Himmel, was das kostet!“ Arthur wusste es besser: „Seit Jahren saniert der Fiskus die großen Städte. Die hygienischen Verhältnisse sind ja auch ein Skandal. Krankenhäuser, Siechenheime, Pflegeanstalten entstehen massenhaft und so mancher verdient sich damit schon eine goldene Nase.“
Olga unterbrach ihn ganz naiv: „Woher kommt das Geld?“ Arthur weiter: „Olgachen, Olgachen, wie dumm Du manchmal bist. - Na, aus Steuermitteln selbstverständlich.“ Arthur lächelte siegessicher. „Wir machen also eine Lungenheilstätte auf und leiten ganz geschmeidig die Steuern in unser Unternehmen um. Zwei Fliegen mit einer Klappe: Wir tun ein gutes Werk und verdienen dabei.“
Die Frauen schauten ihn bewundernd an. Ida hatte dann doch noch eine Frage: „Woher nehmen wir Krankenschwestern, Ärzte, eben das ganze medizinische Personal?“ Auch darauf war Arthur schon vorbereitet: „Die laufen uns massenhaft aus der jüdischen Gemeinde zu. Und ich sage Euch, die sind noch billiger als die bisherigen Leute und arbeiten, ohne zu streiken, jemals Lohnforderungen zu stellen und ohne dieses ganze Brimborium. Die arbeiten nämlich für unseren Heiland.“ Die drei steckten die Köpfe zusammen und besprachen noch ein paar Einzelheiten.
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