Die Steins ihrerseits dienten zwei Herren: Ihrem Heiland und dem Chudenitz. Der wandernde Rabbiner, wenn er nach Schönhof kam, kontrollierte nicht nur die Einhaltung der jüdischen Lebensformen und trieb den Tribut für den Klerus ein, sondern, wenn er das strenge Amtsgeschäft erledigt hatte, setzte er sich gemütlich zu den Leuten und plauderte über Gott und die Welt. Er kam viel herum und kannte sich aus. Der Rabbiner war Zeitung und Rundfunk in einem. Auf diese Weise erfuhr der heranwachsende Leopold, dass es mehr auf der Welt gab, als bedingungslos zu dienen. In anderen Gegenden hatte die kapitalistische Entwicklung kräftig Einzug gehalten und ermöglichte dem Mutigen und auch dem Skrupellosen großartigen Aufstieg. Leopold träumte sich in die Rolle eines reichen Händlers hinein und ahnte als Knabe noch kaum, dass er wirklich einmal recht weit oben in der gesellschaftlichen Hierarchie ankommen sollte. Der Junge wuchs zur Freude seiner Eltern heran und auch der ein oder zwei Mal im Jahr hier auftauchende Rabbiner hatte seinen Narren an dem aufgeweckten Kinde gefressen. Da musste man dann eines Tages über die Zukunft des Jungen nachdenken. Der Rabbiner wuchs zu Höchstform auf und erfüllte eine weitere Mission: Geeignete Knaben für den klerikalen Dienst auswählen.
Leopold Stein war überhaupt nicht traurig, als er am 16. September des Jahres 1856 an der Seite des Rabbiners seine Heimat auf Schönhof verlassen musste. Diesmal reiste der Rabbiner mit Pferd und Wagen. Leopold saß oben neben dem Alten auf dem Kutschbock. Er besah sich tief sinnend ein letztes Mal die schön geschwungenen Berge und die bereits mattgelben Fluren. Die Bequemlichkeit des Reisens mit Pferd und Wagen war den beiden vom Priesteramt gestattet und bezahlt worden, weil der Weg weit und die Jahreszeit ungünstig waren. Leopold sollte unbeschadet im immerhin sechzig Meilen entfernten Prag ankommen. Was der Junge als glücklichen Aufbruch empfand, hatte den Rabbiner einige Kopfschmerzen bereitet. Auch wenn er sich stets wohlgelaunt und überlegen gab, so war die Ablösung des Kindes aus dem Chudenitzschen Dienstverhältnis alles andere als ein Vergnügen gewesen. Der Hofmeister von Schönhof hatte den Rabbiner zu sich rufen lassen und bestand auf der Einhaltung des Vertrages: Der Knabe Leopold war auf dem Anwesen geboren worden, hatte das Brot seines Herrn gegessen, hatte alle notwendige Ausbildung zum Pferdewirt erhalten und war nun mit seinen sechzehn Lebensjahren als vollwertige Arbeitskraft anzusehen. „Da kann ja jeder kommen und einfach einen Domestiken mitnehmen“, stellte der Hofmeister entrüstet fest. Der Rabbiner war nicht rat- oder mittellos, aber er scheute den Aufwand und wollte die Kosten möglichst gering halten. „Nun denn, ich will nicht kleinlich sein“, beteuerte der Mann und zeigte ein blankes Goldstück hervor. Des Hofmeisters Augen glänzten. Er gierte nach dem Gelde und spekulierte richtig: Wo eins ist, kann auch ein zweites sein. Der Hofmeister trieb den Preis in die Höhe: „Nein, nein, so billig ist der Junge nicht zu haben. Bedenkt doch, immerhin sechzehn Jahre gefüttert und gepflegt.“ Der Rabbiner reichte ein zweites Goldstück rüber. Da wurde der Meister williger, spekulierte aber immer noch auf etwas reichere Beute. Der Rabbiner überlegte, wie er den leidigen Geldfluss stoppen könne, denn er wollte ja auch selbst einen guten Schnitt bei der Sache machen. Zehn Goldstücke hatte der Mann in die Tasche seines weiten Rockes gesteckt. Das Priesteramt war nicht kleinlich gewesen. Ein Goldstück war als Reisespesen zu veranschlagen, zweie hatte der Hofmeister soeben weggesteckt, ein viertes Goldstück war an den alten Vater Stein gegangen. Jetzt war es genug! Der Rabbiner rechnete sich selbst sechs Goldstücke als Vermittlungsgebühr an. Das war wohlverdient. Schließlich hatte er alle Arbeit und Überredungskünste aufbringen müssen. Niemals war er reich gewesen. Sechs Goldstücke konnten seinen Lebensabend versüßen.
Kurz entschlossen änderte der Rabbiner seine Taktik. Den Hofmeister auf andere Gedanken bringen, ohne weitere Aufwendung hier fortkommen. Weitschweifig erklärte der Mann: „Nun geht der Junge mit mir, aber ich habe Euch auch eine neue Arbeitskraft gerade hierher gebracht. Wie Ihr wisst, ist dem alten Vater Stein vor einem Jahr die Frau gestorben. Da saß er dann mit sieben kleinen Kinderlein allein und sorgte sich schwer und war auch wenig zu gebrauchen. Ihr erinnert Euch?“ Er machte eine Pause im Redeschwall und schaute, ob der Hofmeister ihm folgen wollte. Der folgte sehr wohl und der Rabbiner entwickelte seinen Faden weiter: „Nun ja, die Frau, die ich von weit her brachte und dem alten Stein anvermählte, ist noch jung, recht fest im Fleische, wird gut arbeiten, den Vater Stein entlasten und ihm viele Kinder gebären.“
Hier endete der Rabbiner und war gespannt. Hatte er den Meister auf den rechten Pfad geführt? Und ob! Dem Hofmeister schwoll der Kamm. Eine frische junge Frau im Domestikenstall. Das war so ganz nach seinem Geschmack. Er lehnte sich zurück, fühlte genüsslich die Spannungen in seiner Hose und lies dann hören: „Man müsste schauen, ob die junge Stein wirklich was taugt. Wie soll ich das von hier aus einschätzen? Bringt mir das Mädel her. Und ich schaue, ob sie für den Hof zu gebrauchen ist. Taugt sie, lasse ich Euch mit Leopold ziehen. Taugt sie nicht, bleibt der Knabe hier.“ Da eilte der Rabbiner hinüber ins Gesindestübchen der Steins und brachte die junge Frau zum Hofmeister. Die erschrockene, blasse, dunkelhaarige und großäugige Frau stand mit ihrer schmalen Gestalt anmutig, zurückhaltend und zitternd vor dem allmächtigen, fetten, feisten Hofmeister. Der befragte sie nach Eltern und bisherigem Lebensweg. Allein, sie konnte keinen Ton herausbringen. Da sagte der strenge Mann zum Rabbiner: „Ihr habt sie völlig eingeschüchtert! - Lasst mich mit ihr allein! - Später rufe ich Euch und teile meine Entscheidung mit.“
Der Rabbiner ging. Sechs Goldstücke klimperten in seinem Rock. Jetzt war er frohen Mutes. Er wusste, was geschehen würde. Und es geschah: Der Hofmeister fiel wie ein Tier über die junge Frau her, befriedigte seinen Geschlechtstrieb und stieß anschließend das geschundene Menschenkind wie eine Fuhre Dreck aus seiner Stube. Dann goss er sich ein Becherglas voll Brandwein ein, stürzte das Gesöff hinunter und warf sich auf die soeben besudelte Bettstatt.
Nach einer Weile schlich der Rabbiner herein und fragte schmierig: „Nun, was wird, Herr?“ Der andere lag immer noch auf dem zerwühlten Bette, hob kaum den Kopf und schrie wütend: „Hau ab, Du dreckiger Jude!“ Der Rabbiner war verunsichert und fragte nach einer Weile noch einmal: „Was wird denn nun, Herr?“ Der Hofmeister ernüchterte augenblicklich und sagte mit etwas Wehmut in der Stimme: „Ihr könnt gehen, Du und der Junge.“
So zog der Leopold Stein mit dem Rabbiner seines Weges und schaute hoffnungsvoll in die Zukunft.
Prag war ein Schmelztiegel von Geschichte und Kultur aus Ost und West, aus Nord und Süd. Da trafen sich Menschen aller Nationen und Glaubensrichtungen und schafften mit den Handwerkern aller Gewerke die wunderschönsten Tempel, Schlösser und Bürgerhäuser. Am Rande der Stadt wuchsen auch Armenviertel für die Mittellosen.
Leopold war nun längst kein armer Schlucker mehr. Er hatte durch das Priesterseminar Bildung, Einfluss und die Aussicht auf eine den Mann ernährende Stellung erworben. Der zwanzigjährige Leopold Stein war der Liebling seiner Lehrer geworden. Er memorierte seine Lektionen ausgezeichnet und hatte sich auch in allen Lebensfragen bewährt. Als die Priester dann seine weitere Verwendung diskutierten, kamen sie überein, den jungen Stein nicht etwa in den Klerus einzubinden, sondern ihm eine Handelsfirma anzuvertrauen. Man würde ihm ein Startkapital von einhundert Goldstücken mit ruhigem Gewissen anvertrauen können, und er würde es binnen kurzer Frist auf das Doppelte ja Dreifache vermehren. Der Gewinn, abzüglich eines Salärs für angemessenen Lebensstandard des Kandidaten, fließt dann in die hohe Rabbiner-Kaste zurück.
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