„Das ist gut“, lobte Maria und erklärte in vertraulichem Ton: „Dann werde ich Dir künftig immer am Freitagabend und am Sonnabend tagsüber unsere lieben Kranken anvertrauen. Sieh mal, meine Kinder brauchen die Zwiesprache mit Gott und wohl auch etwas Ruhe zur inneren Einkehr. Das wirst Du verstehen. Es ist ja auch nicht schwer, ab und an durch die Säle zu gehen und nach dem Rechten zu schauen.“
Die Allgewaltige verschwieg, was für ein riesiger Berg Arbeit es war, an die zwanzig schwerkranke Menschen mit Essen zu versorgen, ihre Leiden zu lindern, sie halbwegs sicher und liebevoll über den Tag zu bringen. Emilie nickte und wurde dann zu ihrer Arbeit entlassen.
Am Sonnabend feierte das Pflegepersonal seinen Gott und Emilie flitzte von Krankenbett zu Krankenbett. Dieser Dienst war zwar schwer, aber Emilie strömte die Dankbarkeit der vom Tode gezeichneten wärmend ins Herz. Das öffnete ihr die Lippen und sie sang, zwitscherte, trällerte bei der Arbeit, sie erzählte hier und da eine lustige Episode, machte witzige Bemerkungen, so dass sich die Gemeinde der Siechenden belebte. Die nebeneinander liegenden Patienten begannen erst flüsternd, später lauter, Gespräche zu führen, lächelten und lösten sich aus ihrer verordneten Bewegungslosigkeit und Zurückhaltung. Es wurde ein guter Tag.
Am Abend rief eine Frau nach Emilie. Wie sie zu diesem Bett herantrat, sagte die Kranke: „Emilie, können Sie nicht ein kleines Gebet für uns sprechen? Es ist doch Sabbat.“ Emilie bedauerte: „Ich kenne keine Gebete.“ Die Frau gab nicht auf: „Oder vielleicht etwas vorlesen?“
Emilie hatte keine Bücher. Oder doch? Die Magd rannte in die Gerümpelbude, in der altes Zeug aus dem Hotel aufgestapelt war, und zog eine Christenbibel hervor. Als sie zu den Kranken zurückkam, hoben die Menschen erwartungsvoll die Köpfe. Emilie schob einen Stuhl in die Mitte des Raumes, setzte sich nieder, schlug das Buch auf und las: „Und Gott schuf den Menschen aus dem Staub der Erde ...“ Die Bibel ist dick, es folgen Kapitel auf Kapitel. An jedem Sonnabend ließ Emilie eine neue Episode folgen. So huldigten sie Gott auf ihre Weise.
Emilies gewöhnlicher Arbeitsplatz war die Küche. Die lag im Souterrain des Hauses, mit einem Ausgang zum Hof, von wo die Lebensmittel und Heizung hereingeholt wurden. Diese Tür stand meistens offen, so dass die frische Luft hinein und das Lachen der jungen Frauen hinaus wehen konnten. Hier unten wirkten die ruhigen, verschüchterten, fleißigen Schwestern wie ausgewechselt. Was oben als oberstes Gebot für Genesung und Heilung galt, nämlich die Enthaltung von allen kräftigen, guten wie schlechten Lebensäußerungen, wucherte hier unten ungebremst. Die Mädchen erzählten sich kleine Geschichtchen, neckten einander, waren über Trauriges tief betrübt, ließen ihrer Jugend also einfach freien Lauf.
Für Emilie bekam jede von ihnen Gestalt, Profil, Persönlichkeit. Während die Schwestern bei ihrem Dienst am Kranken zu durchscheinenden, unwirklichen, dienstbaren Geistern herabgewürdigt wurden, entfalteten sie in der Küche menschliche Lebensart in den schönsten Farben.
Emilie, als die viel Ältere, wurde sehr schnell zu der so dringend benötigten, liebevollen Mutter unter den schwer ausgebeuteten und doch sosehr das Leben herbeisehnenden Krankenschwestern.
Noch mehr wuchsen die Jungen und die Alte zusammen, als heraus kam, dass Emilie ja wirklich Mutter war. „Und wo ist das Kind?“, fragten die Schwestern neugierig und erschaudernd. Emilie gestand, das Mädchen viele Stunden allein oben im Kämmerchen zu verwahren. Was konnte sie mit der Kleinen bei der Arbeit anfangen?
Kurz entschlossen wurde Emma aus ihrem Gefängnis befreit, unter den Schwestern herumgereicht, geherzt und verwöhnt. Sie bekam in der Küche ihren Platz, war unter freundlichen Menschen und vermittelte den ansonsten mit Krankheit und Sterben bis zur Grenze des Erträglichen konfrontierten jungen Frauen glückliche Momente. Natürlich kam die Sache eines Tages raus. Die Oberin, Schwester Maria, inspizierte die Küche nicht oft, aber hin und wieder rauschte sie herein, steckte ihre Nase in Töpfe und Pfannen, kontrollierte die Arbeit, gab Anweisungen, wies zurecht. Und wie sie dann das Kind entdeckte, glaubte sie einem Herzschlag nahe zu sein. Ihre erste Reaktion: „Das Kind kommt weg!“
Aber so einfach ging das nicht mehr. Alle hatten die Emma lieb gewonnen. Und wie Maria das Urteil verkündet hatte, ließen die jungen Frauen die Hände ruhen, senkten den Blick, verharrten still, und sie taten nichts mehr. Sie taten nichts mehr! Ganz leise, zögernd, langsam wie ein Nebelschwaden verbreitet sich im Hause die Nachricht, „Das Kind kommt weg“.
Die Schwestern im Saal erstarrten zu Säulen. Na ja, Säulen nun nicht gerade. Die zarten Schwestern im Saal hatten nicht die Statur für Säulen. Sie erstarrten zu steifen Stöckchen. Keine Arbeit wurde mehr erledigt. Das Wischwasser wurde kalt, die Feudel blieben liegen, die Putzlappen hingen trocken am Haken. Selbst die Kranken schienen weniger zu husten, niemand richtete sich auf. Alles war still, stumm, bewegungslos. Jetzt glich das Ganze erst recht einem Totenhaus.
Das hatte Maria nicht gewollt. So konnte die Sache nicht ausgehen. Bei aller Liebe zu den gängigen Doktrinen des Gesundheitswesens. So ging es nicht. Maria lenkte ein: „Das Kind darf bleiben.“ Da lebten die Frauen auf und schwirrten wieder emsig wie in einem Bienenstock. Emma wurde der Liebling und die ganze Freude aller Bewohner des Sanatoriums in Lazy.
Конец ознакомительного фрагмента.
Текст предоставлен ООО «ЛитРес».
Прочитайте эту книгу целиком, купив полную легальную версию на ЛитРес.
Безопасно оплатить книгу можно банковской картой Visa, MasterCard, Maestro, со счета мобильного телефона, с платежного терминала, в салоне МТС или Связной, через PayPal, WebMoney, Яндекс.Деньги, QIWI Кошелек, бонусными картами или другим удобным Вам способом.