Wütend ging Olga in ihr Zimmer und kramte nach dem Autoschlüssel. Richard hatte sich halb im Bett aufgerichtet und beobachtete sie amüsiert. „So können wir wenigstens nicht verschlafen“, grinste er. Sie warf ihm ebenfalls einen bösen Blick zu. „Ich finde das gar nicht lustig!“
Nachdem sie ihrem Vermieter den Schlüssel in die Hand gedrückt hatte, kam sie ins Zimmer zurück. Richard hatte sich wieder zurücksinken lassen. „Wir sollten uns nicht die Laune verderben lassen. Komm noch mal ins Bett.“
Doch dazu war ihr die Lust vergangen. Sie schnappte sich ihre Unterwäsche und begann sich anzuziehen. „In einer halben Stunde muss ich sowieso aufstehen. Ich mache jetzt Frühstück.“ Nach fünf Minuten klopfte es an der Tür und sie war froh, dass sie Richards Aufforderung abgelehnt hatte. Diesmal war es Frau Rieder, die vor der Tür stand, um ihr den Autoschlüssel zu geben. Olga bedankte sich artig und schob die Tür rasch wieder zu.
Richard erhob sich nun auch langsam. „Du kannst mich gleich heute früh vor deinem Unterricht zum Bahnhof bringen. Dann verpasse ich meine Zehn-Uhr-Vorlesung nicht.“
Nach diesem abrupten Start in den Montag hatte Olga dem nichts entgegenzusetzen. Ziemlich genervt und immer noch erbost fuhr sie anschließend an die Schule, um in die neue Arbeitswoche zu starten.
In der großen Pause ließ sie sich neben Ute nieder und ließ erst einmal Dampf ab. „In dieser Wohnung halte ich es nicht lange aus“, schimpfte sie und erzählte von ihrem morgendlichen Erlebnis. „Ich muss wirklich schauen, dass ich bald etwas anderes finde!“ „Bei mir in der Nähe wird ein neuer Wohnblock erstellt. Vielleicht hast du Chancen, wenn du dich da bald drum kümmerst“, meinte Ute.
Das ließ Olga sich nicht zweimal sagen. Sie hatte Ute von Anfang an um ihre hübsche Zweizimmerwohnung beneidet. Ein gemütliches Heim ohne ständiges Zusammentreffen mit dem Vermieter – so hatte auch sie sich ihre erste eigene Wohnung vorgestellt!
Am Nachmittag schaute sie sich auf der Baustelle um und notierte sich die Adresse der Wohnbaugesellschaft, die auf einem Plakat angeschrieben stand. Noch am gleichen Tag schrieb sie diese an.
Am nächsten Tag fand nachmittags eine Lehrerkonferenz statt, was immer ein lange Sitzung und für Olga ohne nennenswerten Nutzen war. Doch als Herr Jesser fertig war, richtete er das Wort an sie. „Fräulein Wessling, ich möchte Sie gerne noch alleine sprechen. Kommen Sie bitte gleich mit ins Rektorat!“
Olga warf Ute einen besorgten Blick zu, doch diese zuckte nur verwundert die Schultern. Sie konnte sich diese Aufforderung auch nicht erklären, hatte aber den gleichen Gedanken: Das konnte nichts Gutes bedeuten! Mit einem mulmigen Gefühl packte Olga ihre Sachen zusammen und folgte Herrn Jesser, während die anderen nach Hause strebten. Er bot ihr einen Platz an, ließ sich aber Zeit mit dem, was er sagen wollte. Schließlich fragte er: „Wie läuft es denn so mit Ihrer Klasse?“
Olga warf ihm einen misstrauischen Blick zu, ehe sie zögernd antwortete: „Ganz gut, denke ich.“ Er nickte, dann setzte er hinzu: „Ich wollte Ihnen bloß mitteilen, dass sich Herr Kleiner, unser Schulrat, für nächste Woche angekündigt hat. Er wird in erster Linie Fräulein Bard besuchen, aber er möchte auch bei Ihnen kurz reinschauen. Also überlegen Sie sich, was Sie ihm vorführen können. Es wäre sehr unangenehm, wenn die Klasse einen schlechten Eindruck macht.“
Das verschlug Olga erst einmal die Sprache. So bald hatte sie nicht mit einer Überprüfung durch den Schulrat gerechnet. Ute war ja schon einige Zeit eingestellt und würde in einem Jahr die zweite Dienstprüfung ablegen. Doch sie hätte sich noch etwas Zeit zum Einarbeiten gewünscht. Zwar hatte sich tatsächlich einiges verbessert an der Arbeit mit der Klasse, aber zuweilen hatte sie noch sehr mit der Einhaltung der Disziplin zu kämpfen.
Herr Jesser hatte sie scharf beobachtet. „Dann wissen Sie jetzt also Bescheid. Machen Sie was Vernünftiges draus.“ Damit erhob er sich und ging zur Tür, die er ihr höflich aufhielt. Wie betäubt verließ Olga das Rektorat und ging die Treppe hinunter zum Parkplatz.
Als sie im Auto saß, atmete sie erst einmal tief durch. Dann beschloss sie, zunächst bei Ute vorbeizufahren. Diese hatte mit keinem Wort erwähnt, dass der Schulrat sich angemeldet hatte, vielleicht wusste sie es noch nicht einmal.
Ute war tatsächlich noch nicht informiert worden, aber auch nicht so sehr überrascht, weil sie demnächst mit dem Besuch gerechnet hatte, dessen Beurteilung zur Prüfungsanmeldung notwendig war. Aber dass Herr Kleiner auch Olga besuchen wollte nach dieser relativ kurzen Zeit, wunderte sie sehr.
„Wahrscheinlich hat das gar nicht so viel mit dir zu tun“, überlegte sie. „Die Krankheit von Frau Rot und die Folgen sind ja auch auf dem Schulamt bekannt. Ich vermute, man will bloß schauen, ob die Klasse jetzt gut versorgt ist. Also eine Bewertung wie bei mir gibt es bestimmt nicht!“ „Aber wenn es Probleme gibt, wird man die Schuld bei mir suchen“, befürchtete Olga.
Trotzdem hatte das Gespräch sie etwas beruhigt. Sie wollte jetzt nur noch rasch nach Hause an ihren Schreibtisch, um sich für den nächsten Tag gut vorzubereiten.
Am nächsten Morgen erwachte Olga ziemlich unausgeschlafen, weil sie bis tief in die Nacht noch gearbeitet und auch danach lange keine Ruhe gefunden hatte. Seufzend kämpfte sie sich aus dem Bett und versuchte, sich die Müdigkeit aus den Augen zu blinzeln. Immerhin versprach es ein schöner sonniger Tag zu werden.
Als sie auf den Parkplatz der Schule fuhr, kamen gerade einige ihrer Schüler angelaufen. Sie begrüßten sie freudig beim Aussteigen und Olga musste wieder einmal staunen, wie viel Herzlichkeit ihr von Seiten der Kinder entgegenschlug trotz der Schwierigkeiten, die sie beim Unterrichten als erdrückend empfand. Aber vielleicht war das für den heutigen Vormittag ein gutes Omen. Lächelnd nahm sie ihre Tasche vom Rücksitz und zwang sich zur Zuversicht, denn sie hatte sich einen spannenden Einstieg für den heutigen Stundenbeginn ausgedacht.
Zunächst lief auch alles nach Plan. Die Schüler ließen sich alle motivieren und konzentrierten sich ganz auf das, was sie ihnen erklärte. Es entspann sich ein angeregter Austausch über Möglichkeiten, wie man etwas zum Schwimmen bringen könnte und die Spannung stieg, als Olga die kleine Wanne, die sie am Vortag schon ins Klassenzimmer geschmuggelt hatte, mit Wasser füllte. Sie forderte die Kinder auf, in kleinen Gruppen mit ihren Stühlen zu einem Stuhlkreis herauszukommen.
Plötzlich rief ein Junge: „Ralf hat ein Messer dabei!“
Sofort ging ein aufgeregtes Geschrei los, dem Olga trotz aller Mühe kaum ein Ende setzen konnte. Alle ließen ihre Stühle da nieder, wo sie gerade standen und drehten sich nach dem Übeltäter um, der selbst eher erschrocken um sich schaute.
„Ralf, ist das wahr?“ fragte Olga, als es endlich etwas ruhiger wurde. Der Junge versteckte die Hand hinter dem Rücken und schüttelte den Kopf. Langsam bahnte Olga sich einen Weg durch das Gewirr von Stühlen und Kindern.
„Wenn du ein Messer hast, musst du es mir geben. Du weißt doch, dass du so etwas nicht mit in die Schule bringen darfst“, versuchte sie es noch einmal. Mit ausgestreckter Hand ging sie weiter auf Ralf zu, der seinerseits immer mehr zurückwich, bis die Wand ihn daran hinderte.
„Ich hole den Hausmeister!“ schrie Peter, ein Lausbub, der schon oft genug von diesem aus dem Klassenzimmer geholt worden war. Offensichtlich beflügelte ihn der Gedanke, dieses Schicksal heute einem anderen zukommen zu lassen. „Du bleibst hier!“ rief Olga und drehte sich nach ihm um, doch der Lausebengel hatte schon die Tür aufgerissen und war hinausgestürmt. „Ich gehe mit ihm“, brüllte Peters Freund Michi und rannte ebenfalls hinaus.
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