„Es hat –äh - Schwierigkeiten mit einigen Schülern gegeben, deshalb bringe ich ihn selbst nach Hause. Aber Ihr Mann muss nichts tun. Ralf soll heute Nachmittag nachsitzen, dann ist er genug bestraft. Ich erwarte ihn um zwei Uhr an der Schule.“
„Ist das alles? Ja, ich schicke ihn pünktlich wieder weg, da können sie sich drauf verlassen.“
Damit packte sie ihren Sohn unsanft am Arm, zog ihn in die Wohnung und schlug die Tür zu. Olga stand da wie ein begossener Pudel und lauschte auf die Stimme, die dahinter wieder laut wurde. Dann wandte sie sich mit einem unguten Gefühl um und machte sich auf den Nachhauseweg.
Nach einem mehr als hastigen Imbiss packte sie einige Schulbücher und Arbeitsmaterialien ein in der Hoffnung, wenigstens einen Teil ihrer Vorbereitungen im Klassenzimmer erledigen zu können. Dann fuhr sie erneut zur Schule. Sie wartete am Eingang, um Streitereien und daraus resultierenden Kämpfen zwischen den drei Jungen zuvorzukommen. Ihr Gefühl hatte sie nicht getäuscht: Peter und Michi hatten Begleitung von drei Klassenkameraden, die ihr auch immer wieder Probleme bereiteten. Als sie ihre Lehrerin vor der Tür stehen sahen, unterhielten sie sich aufgeregt und zogen sich dann schnell zurück. Die beiden Nachsitzer kamen allein heran getrottet. Olga musterte sie forschend, worauf sie ihrem Blick auswichen.
„Ist der Ralf noch nicht da?“ wollte Peter schließlich wissen. „Was machen Sie, wenn er gar nicht kommt?“
„Er wird kommen“, versetzte Olga fest, wobei sie sich genau die Frage auch schon gestellt hatte. Sie spürte, wie ihre Hände vor Aufregung feucht wurden, denn diese Situation würde ihre Lage noch mehr verschärfen. Doch dann bog Ralf um die Ecke, langsam und mit gesenktem Kopf. Erleichtert atmete sie auf.
„Na, dann wollen wir mal“, sagte sie betont lässig und schloss die Eingangstür auf. Gemeinsam gingen sie ins Klassenzimmer, wo Olga jedem von ihnen einen Platz anwies, in jeder Ecke einen und weit voneinander entfernt. Der Text, den sie ihnen zum Abschreiben ausgesucht hatte war so lang, dass diese zwei Stunden wahrscheinlich nicht ausreichen würden. Aber sie wollte die drei auf jeden Fall für den ganzen Zeitraum beschäftigt haben.
Nach einer halben Stunde stand Ralf plötzlich neben ihr. Überrascht schaute sie ihn an. Er streckte ihr etwas entgegen, was sich bei näherem Hinsehen als fünf zerdrückte Gänseblümchen entpuppte. Er legte sie ihr verlegen aufs Pult.
„Danke, dass du mich bei meiner Mama nicht verpetzt hast“, sagte er leise, drehte sich um und ging unauffällig zurück an seinen Platz. Olga schaute zu den beiden anderen, aber sie waren so mit Schreiben beschäftigt, dass sie anscheinend nichts bemerkt hatten. Dann nahm sie die Blümchen und lächelte Ralf zu, der wieder an seinem Tisch saß. Schüchtern lächelte er zurück, bevor sein Kopf sich wieder über sein Heft neigte.
Der Rest der Woche verlief ohne nennenswerte Vorfälle. Dass Peter und Michi die Unterschriften ihrer Väter beim Rektor vorlegen mussten, zähmte anscheinend auch die anderen schwierigen Schüler, zumindest für den Augenblick. Allerdings erfuhr Olga von Frau Müller, dass eine aufgebrachte Mutter bei Herrn Jesser vorgesprochen hatte, angeblich im Namen vieler besorgter Eltern. Doch er äußerte sich ihr gegenüber nicht, weshalb sie auch nicht erfuhr, ob das verhängnisvolle Messer, das sie seitdem im verschlossenen Pult aufbewahrte, zur Sprache gekommen war.
Aber sie war jeden Tag aufs Äußerste angespannt. Der Druck, den der anstehende Schulratsbesuch bei ihr verursachte, war zu groß, weil sie sich ständig vorstellte, was alles passieren könnte. Als sie am Samstag endlich zu Richard fahren konnte, flatterten ihre Nerven immer noch.
So war es auch kein Wunder, dass sie zunächst nur ein Gesprächsthema hatte. Richard hörte sich ihre Erzählungen und Ängste ungeduldig an.
„Kannst du denn auch mal an was anderes denken?“ murrte er schließlich. „Ich habe keine Lust, mich den Rest des Wochenendes mit deinen Problemen zu beschäftigen. Für mich fallen auch noch einige Klausuren an, die mir im Magen liegen.“
Das hatte sie ganz vergessen. Ein bisschen regte sich so etwas wie ein schlechtes Gewissen.
„Du hast Recht“, sagte sie versöhnlich. „Wir sollten die Probleme vergessen und etwas Schönes unternehmen.“
„Zumindest heute Abend“, stimmte er zu. „Morgen muss ich auch ein paar Stunden noch büffeln.“
Am nächsten Morgen stand Olga auf, während Richard noch tief schlief. Sie bereitete das Frühstück vor und hoffte, damit die etwas missmutige Stimmung des Vortages zu vertreiben. Richard hatte ja Recht: Er musste sich ständig ihre Negativerlebnisse anhören, obwohl er auch einige Sorgen hatte. Die Klausuren, die noch anstanden am Montag und Dienstag, waren für ihn im Moment sehr wichtig, weil er als BAföG-Empfänger die Ergebnisse immer vorlegen musste. Durchfallen konnte er sich nicht leisten…
Sie hatte alles vorbereitet und der Kaffeeduft weckte ihn schließlich auf. Er räkelte sich entspannt und schnupperte.
„Ah, ich werde verwöhnt“, schmunzelte er und schwang seine Beine aus dem Bett.
Doch gemütlich wurde es nicht. Er stopfte sich schnell ein Stück Brot mit Butter und Marmelade in den Mund, schlang das Frühstücksei hinunter und meinte noch mit vollem Mund:
„Kannst du den Tisch gleich leer räumen? Ich brauche den Platz zum Arbeiten.“
Olga schluckte. Sie hatte alles so liebevoll gedeckt und fühlte sich nun zur Putzfrau degradiert. Aber seine Arbeit ging natürlich vor. Also räumte sie die Reste weg und trug das Geschirr zum Waschbecken zum Spülen. Er packte, kaum dass sie den Tisch abgewischt hatte, seine Arbeitsmaterialien darauf und vertiefte sich in seine Bücher.
Als sie alles erledigt hatte, war Richard total in seine Arbeit vertieft. Sie beobachtete ihn eine Weile und kam zu dem Schluss, dass sie ihn eigentlich nur störte. Vielleicht wäre es auch für sie besser, früh nach Hause zurückzufahren und ihren Unterricht für die kommende Woche gründlich vorzubereiten. Immerhin wollte sie gewappnet sein für den angekündigten Besuch des Schulrats!
Zärtlich legte sie Richard die Hände auf die Schultern und küsste ihn auf den Scheitel.
„Ich werde jetzt schon gehen, damit du in Ruhe lernen kannst. Wenn ich am nächsten Samstag wieder komme, haben wir beide das Schlimmste hinter uns und können das Wochenende richtig genießen.“
Er drehte sich um und zog sie auf seinen Schoß. Aufseufzend legte er den Kopf auf ihre Brust.
„Tut mir Leid, Olga, aber meine Zeit ist wirklich knapp. Und mach dir nicht in die Hosen wegen des Schulrats. Du kriegst das schon hin. Du sagst doch selbst, dass es nach diesem Vorfall ganz gut lief.“
„Nächsten Samstag ist es vorbei. Wahrscheinlich war dann tatsächlich alles nicht so schlimm“, flüsterte sie, um ihn nicht wieder zu reizen und sich selbst Mut zu machen.
Der Abschied war kurz und bald saß sie in ihrem Auto. Und hier verließ sie auch sofort die Zuversicht, die sie Richard vorgegaukelt hatte. Während sie den Anlasser betätigte, dachte sie enttäuscht: „Für ihn ist das alles so einfach. Richtig nachempfinden kann er meine Sorgen nicht!“
Sie kam um die Mittagszeit bei ihrer Wohnung an und natürlich lief ihr gleich Herr Rieder über den Weg, als sie mit ihrer Tasche die Treppe hochsteigen wollte.
„Oh, Sie sind heute aber früh zurück. Hat es Ihnen bei Ihrem Freund dieses Mal nicht so gut gefallen?“
„Ich habe noch eine Menge zu arbeiten, und auch er muss sich auf einige Klausuren vorbereiten“, erklärte sie und dachte dabei ungehalten: „Geht ihn das eigentlich irgendetwas an? Hoffentlich klappt das mit der Wohnung, damit ich hier bald rauskomme!“
„Ach, das ist wirklich jammerschade, wo doch heute so ein tolles Wetter ist. Aber was sein muss, muss sein… Lassen Sie sich durch mich bloß nicht aufhalten!“
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