Elena genoss derweil ihren Auftritt. Sie sah geradewegs in die Augen des jungen Mannes und ihr Blick blieb einen Augenblick auf seiner Hose haften. Zufrieden hob sie den Kopf und setzte ihr schönstes Lächeln auf. Maria atmete erleichtert, als sie ihre Tochter endlich in einem halbwegs vernünftigen Aufzug sah. Zugegeben, die Shorts waren etwas gewagt, aber Maria hatte selbst vor vielen Jahren ihre gesamten weiblichen Reize eingesetzt, um sich Tonio zu angeln. Und das war angesichts der Konkurrenz gar nicht so einfach gewesen. Ihre Eltern besaßen nicht viel Vermögen. Ihr Vater war Fischer und hielt die Familie mit etwas Alkoholschmuggel über Wasser. Von der Fischerei allein konnte die Familie nicht leben. Dann biss Tonio an und auch der Vater brachte es dank Tonios Kontakten zu Wohlstand. „Elena, musst du dich so aufreizend kleiden? Das schickt sich doch nicht für ein anständiges Mädchen aus gutem Hause!“, schalt Maria. „Carlotta, Werner, hier präsentiere ich euch die Zweitjüngste. Elena ist Vierzehn, genau wie euer Michael. Ich hoffe, ihr beiden werdet euch gut verstehen. Am besten, du zeigst unserem Gast gleich mal sein Zimmer, Elli!“ Wohlwollend schmunzelnd ebnete Maria den beiden den Weg. Den Rest müssen sie jetzt selbst erledigen, dachte sie. Der Junge ist intelligent, spricht Italienisch, sieht gut aus und könnte Tonios Erwartungen entsprechen. Maria wandte sich zufrieden ihrer Cousine und deren Mann zu. „Dann wollen wir mal der Jugend ihren Lauf lassen und uns auf die Terrasse begeben. Ihr werdet nach der anstrengenden Reise sicher hungrig und vor allem durstig sein“, erklärte sie und schob die Erwachsenen durch das riesige Wohnzimmer nach draußen, wo Carlotta und Werner der schönste Ausblick empfing, den sie beide je genießen durften. Der Hafen und die Bucht Palermos lagen in ihrer ganzen Pracht und Schönheit vor dem begeisterten Paar aus Deutschland.
Christina bemerkte traurig, wie gekonnt sich ihre ältere Schwester in Szene gesetzt hatte. Schade, dachte sie. Dann ist der neue Cousin wohl vergeben. Aber das macht nichts, ich heirate sowieso nur Luca. Den gleichaltrigen Freund und Sohn eines engen Vertrauten ihres Vaters kannte sie schon aus ihrer Sandkastenzeit. Damals hatten sich ihre Mutter und Lucas Mama darüber unterhalten, dass die beiden Kinder sicher einmal ein hübsches Paar abgeben würden. Luca gehörte seitdem zu Christinas Leben wie Elli und die anderen Schwestern. Sie ließ Michaels Arm los und legte seine Hand auf Elenas. Diese zuckte bei der ersten Berührung zusammen und wollte ihre Finger schon ängstlich zurückziehen, als sie Michaels festen Druck auf ihren Handwurzelknochen spürte. „Ciao! Mi chiamo Michael, du bist sehr hübsch!“ Er sah ihr dabei direkt in ihre schönen Augen. „Grazie, mi chiamo Elena!“ Sie senkte leicht errötend den Kopf. Das werden die besten Ferien meines Lebens, dachte Michael. Whow! Wenn ich mich jetzt auch noch mit Onkel Tonio verstehe, ist mein Glück perfekt. Christina stand grinsend neben den beiden Jungverliebten und tippte ihre apathisch wirkende Schwester an. „Hallo, bist du noch da, Elli? Du sollst unserem Gast sein Zimmer zeigen!“ Elena schrak auf. Mein Gott, ist der süß! , dachte sie zitternd. Ich vergesse mich gleich. „Si, natürlich. Komm! Dein Gepäck ist sicher schon oben. Du hast ein sehr schönes Zimmer und es liegt nicht weit weg von meinen Räumen“, erklärte sie wie selbstverständlich und hielt erneut erschrocken inne. Mein Gott, was sag ich denn da? „Ja, ja, die Macht der Liebe!“, lachte Christina geheimnisvoll. „Ich glaube, ich überlasse euch beiden Turteltauben mal eurem Schicksal.“ Und zu Michael gewandt: „Du wirst es hier sicher nicht schwer haben, dein Italienisch scheint auch ganz gut zu sein. Ich bin dann mal am Pool, wenn mich jemand sucht.“
Elena und Michael waren allein. Er hielt noch immer ihre Hand und ließ auch nicht los, als das Mädchen ihn über die Treppe hinauf nach oben führte. Einen Moment später standen die beiden Jugendlichen auf dem zum Gästezimmer gehörenden Balkon und schauten über die Bucht Palermos. „Gefällt es dir?“ Elena blickte ihren Begleiter verliebt an. „Sehr, allein dieser Ausblick ist fantastisch und dann das hübscheste Mädchen, das es auf der Welt gibt, an der Hand halten zu dürfen! Was kann es Schöneres für einen Mann geben?“ Michael lächelte. Ich bin wirklich ein Glückspilz. Er dachte an seinen Onkel. „Wo ist dein Vater und wie ist er so?“ „Also, erstens, du flirtest schon wie ein richtiger Italiener und zweitens, der arbeitet in seinem Büro. Er ist ganz nett, eben mein Papa!“
Don Tonio hatte seinen Computer herunter gefahren, als er Tommaso mit dem Auto die Einfahrt hinaufkommen sah. Er führte noch einige wichtige Telefonate, stand von seinem Bürostuhl auf, ordnete seine Kleidung und schloss die Tür hinter sich. Sein Weg führte ihn am inzwischen geöffneten Gästezimmer vorbei. Er lächelte wohlwollend, als er die beiden jungen Menschen bereits Hand in Hand auf dem Balkon stehend bemerkte. Der Junge wandte ihm nur den Rücken zu, doch er schien kräftig und sportlich zu sein. Die Art, wie er Elenas Hand hielt, verriet dem erfahrenen Mann, dass sich hinter diesem Charakter Entschlusskraft und Selbstbewusstsein verbargen. Der Junge weiß, was er will, dachte Tonio. Gut, so. Vielleicht hat Maria tatsächlich eine richtige Wahl getroffen. Mal sehen, was er sonst noch kann! „Ganz nett, so, so. Dann kann ich ja dein Pferd gleich wieder verkaufen und deinen Kleiderschrank dazu auch. Ganz nett! Von meiner Lieblingstochter habe ich aber wirklich mehr Begeisterung erwartet!“, entrüstete sich der vierfache Vater schmunzelnd.
Elli und Michael drehten sich um. Einen Augenblick lang lasen Michael und Tonio einander in den Augen. Dann war das Eis gebrochen. Wie selbstverständlich ließ der Junge die Hand des Mädchens los, ging ein paar Schritte auf den Onkel zu und umarmte den Mann, den er noch bis vor wenigen Minuten nur aus den Erzählungen seiner Eltern kannte. Einen Moment lang verharrten die beiden in ihrer Position und ließen ihren Empfindungen freien Lauf. Ein tiefes Gefühl von Seelenverwandtschaft und der Funke einer besonderen Form von Liebe übertrugen sich von dem einen auf den anderen. Tonio drückte seinen vielleicht künftigen Nachfolger und Schwiegersohn fester an sich. Michael sah ihm dabei in die Augen und lächelte. Die Verbindung war hergestellt und würde von nun an auch über den Tod hinaus bestehen. „Oh, Papa, du bist nicht nur ganz nett, sondern natürlich sehr nett und dazu der liebste Papa auf der ganzen Welt. Aber lass das mit der Lieblingstochter nicht Christina hören. Sie ist sowieso schon eifersüchtig auf mich. Ich glaube, sie hätte Michael auch gerne gehabt. Das muss ein ziemlicher Schlag für sie gewesen sein!“, lachte Elli und gab ihrem Vater einen liebevollen Kuss.
„Ciao, Onkel Tonio. Ich freue mich, dich endlich kennenzulernen. Meine Eltern haben mir schon so viel von dir erzählt. Vor allem Papa brüstet sich immer wieder mit seinem heldenhaften Sprung ins eiskalte Hafenbecken und das er Mama damals das Leben gerettet hat“, erklärte Michael. Tonio hüstelte etwas. „Ich weiß nicht, ob ich das sagen darf, aber die Wassertemperatur betrug zu der Zeit so annähernd 25 Grad und deine Mutter war eine ausgezeichnete Schwimmerin!“ „Ich dachte es mir. Väter übertreiben gerne. Aber, lassen wir ihn in dem Glauben, ein Held zu sein.“ Michael zwinkerte Tonio zu. Ein geheimnisvoller Bund zwischen Onkel und Neffe war geschlossen. „Komm, mein Sohn, lass uns zu deinen Eltern gehen. Es gibt sicher auch gleich Essen. Ich freue mich auf das Wiedersehen!“ Tonio legte zufrieden einen Arm um Michael und nahm seine Tochter an die Hand.
Elena erwies sich als ausgezeichnete Fremdenführerin. Michael und das junge Mädchen setzten sich immer wieder von der übrigen Familie ab und genossen ihre ungestörte Zweisamkeit. Carmen, Elenas Schwester, bekam kurz Besuch von ihrem Freund Stefano. Einen Augenblick lang wechselten die beiden Jungen ein paar Worte, bevor Michael wieder ganz und gar Elena gehörte. Diese führte ihn auf dem großen Anwesen herum, welches weit abgelegen auf einer Bergkuppe hoch über Palermo im Naturschutzgebiet am Monte Pellegrino lag. Die Liebenden ließen sich unterwegs dann und wann ins hohe Gras fallen, lauschten dem Meeresrauschen und den Vogelstimmen und vergaßen dabei die übrige Welt. „Das ist also dein Lieblingsplatz?“, fragte Michael. Sie standen auf dem kleinen Felsen und setzten sich im Schatten einer Akazie nieder. Unter ihnen wand sich ein sandiger Weg, welcher allenfalls einem einzigen Auto Platz bieten konnte. An Gegenverkehr war nicht zu denken, führte der nicht abgesicherte Seitenstreifen doch geradewegs einige hundert Meter weit in die Tiefe. Wer dort hinabstürzte, war verloren. Elena hatte den Platz in respektvoller Entfernung von der Abbruchkante gewählt und zeigte mit ausladender Hand auf das vor ihr in der Sonne glitzernde Meer. „Ja, ich komme immer hierher, wenn ich einmal ganz allein sein will. Der Ausblick ist traumhaft und diese Stelle liegt am weitesten vom Haus entfernt. Von den Männern kommt niemals jemand soweit herauf. Siehst du den Felsen da unten am Strand?“ Michael nickte mit dem Kopf. „Bei Ebbe kann man von See aus dort hinein klettern. Es ist eine alte Schmugglerhöhle und sie führt tief unter den Berg. Früher trieben dort Seeräuber und Banditen ihr Unwesen. Die Leute erzählen sich auch Geschichten über einen Schatz, der irgendwo versteckt sein soll. Von hier oben kommt man nicht hin. Der Abstieg ist zu gefährlich. Aber mit einem Motorboot kann man von der Seeseite hingelangen. Im zweiten Weltkrieg hatten sich auch von den Nazis verfolgte Juden in der Höhle aufgehalten. Auf der anderen Seite des Berges gibt es einen inzwischen verschütteten Landzugang. Die Leute sollten von einem Boot abgeholt werden und waren zu weit hinunter ans Meer geklettert. Als die Flut kam, ertranken alle. Nur ein einziger Junge konnte sich retten. Stefanos Opa hatte ihn nach der Tragödie lange Zeit bei sich im Keller versteckt. Der Junge lebt noch, ist natürlich jetzt ein sehr alter Mann und er ist seitdem auch nicht mehr ganz richtig im Kopf. Aber seine Geschichten sind unglaublich spannend. Angeblich hat er den Zugang zum Seeräuberschatz gefunden. Die Polizei hat den Berg vor ein paar Jahren an der Stelle, wo der Eingang zur Höhle liegt, auf Wunsch meines Vaters gesperrt. Es gab schon zu viele Unfälle mit unvorsichtigen Schatzsuchern.“
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