Werner konnte ihr nicht im Weg stehen und musste schweren Herzens zusagen. Das Morddezernat sollte nun ganze zwei Wochen auf ihn verzichten. Er dachte gerne an die Zeit vor fünfundzwanzig Jahren zurück, als er seine Frau auf Sizilien kennengelernt hatte. Sie stand damals mit ihrer Cousine Maria am Hafen von Palermo und unterhielt sich mit einem jungen Mann. Plötzlich fuhr ein Auto auf die Gruppe zu und der junge Begleiter der beiden Frauen stellte sich noch schützend vor sie, doch Carlotta verlor den Halt und fiel hinten über ins Wasser. Werner hatte nicht eine Sekunde lang gezögert, seine Sandalen abgestreift und war mit einem eleganten Kopfsprung ins Hafenbecken gesprungen. Als Tonio Andretti, der Begleiter der jungen Frauen, handeln konnte, schwamm Werner bereits mit Carlotta im Arm auf einen Ponton zu. Rasch war Tonio damals die Kaimauer hinab geklettert. Der junge Sizilianer nahm die durchnässte Frau samt ihrem Retter glücklich in Empfang. Werner bat die bildhübsche Carlotta um ein Wiedersehen. Im Gegensatz zu Carlottas Familie, die der Beziehung sehr skeptisch gegenüberstand, gratulierte Tonio den beiden ein Jahr später herzlich zur Verlobung. Maria und er heirateten noch im selben Jahr. Beide Paare verband seitdem eine tiefe Freundschaft und Werner mochte den ruhigen Sizilianer sehr, der sich als Bauunternehmer einen guten Namen gemacht hatte. Leider beschränkte sich der Kontakt aufgrund ihrer beider Berufstätigkeit seit damals auf gelegentliche Telefonate. So freute sich nun auch Werner darauf, Tonio und Maria endlich wieder sehen zu dürfen. „Es ist alles eingepackt. Das Taxi wartet. Fenster und Türen sind zu und wenn meine beiden Männer jetzt die Rucksäcke und Koffer nehmen würden, stünde unserer Abfahrt nichts mehr im Wege. Avanti, meine Herren!“, lachte Carlotta und schob Ehemann und Sohn resolut aus dem Haus. Glücklich schloss sie ihre Haustür ab, währenddessen der Taxifahrer das Gepäck im Kofferraum verstaute.
„Zum Flughafen, bitte“, befahl die temperamentvolle Wahlhamburgerin und setzte sich zu ihrem Sohn in den Fonds des Wagens. „Es wird dir auf Sizilien gefallen, mein Schatz. Onkel Tonio und Tante Maria sind wundervolle Menschen und ihre Töchter werden sich lieb um dich kümmern. Du bist in Palermo geboren. In deinen Adern fließt sizilianisches Blut. Das ist dicker als Wasser, auch wenn es dein Vater nicht wahr haben will.“ Zärtlich streichelte sie ihrem Mann über die Wangen. „Die anderen haben gesagt, in Palermo regiert die Mafia und ich werde als Pate zurückkommen“, antwortete Michael mit einem provokanten Seitenblick auf seinen Vater. Erschrocken wollte dieser etwas entgegnen, doch Carlotta kam ihm zuvor. „Papperlapapp, das gibt es nur in drittklassigen Krimis. Onkel Tonio ist seit Jahren in der Baubranche tätig, genau wie sein Vater vor ihm. Er entstammte einer alt eingesessenen ehrbaren Familie. Du wirst ihn mögen. Papa kehrt nur gerne den Commissario heraus. Er und Tonio sind sehr gute Freunde.“ „Ich habe mir jedenfalls vorsorglich alles Wissenswerte über die Cosa Nostra im Internet durchgelesen!“, rief Michael selbstsicher aus und erntete dafür einen leicht gequälten Blick seines Vaters. Das Taxi stand inzwischen vor dem Flughafeneingang. „Wir setzen die Diskussion später fort“, meinte Werner und drückte seinem Sohn Koffer und Rucksack in die Hand.
„Dann wünsche ich Ihnen einen schönen Urlaub, Herr Kommissar“, grinste der rundliche Taxifahrer, bedankte sich kopfnickend für sein Trinkgeld und war im nächsten Augenblick auch schon im dichten Flughafenverkehr verschwunden. Die Familie gab als erstes ihr Gepäck auf. Carlotta steuerte danach zielstrebig auf die Zollabfertigung zu und nach den üblichen Formalitäten konnten sie diese Hürde erfolgreich nehmen. Michael blickte sich in der Abflughalle um. Das Boarding sollte erst in einer guten Viertelstunde beginnen. Geflogen war er bereits, so dass die Vorbereitungen nicht etwas so gänzlich Neues für ihn darstellten. Die meisten Fluggäste schienen Italiener zu sein. Als er noch klein war, fand er es lästig, dass sich seine Mutter in frühen Kindertagen die Zeit genommen hatte, ihm Italienisch nicht nur in Wort, sondern auch in der Schrift beizubringen. Aber nun erinnerte er sich an ihren Unterricht und bemerkte stolz, dass er die Sprache der anderen Menschen verstand. Das Sprechen fiel ihm noch schwer, aber das würde sich in Palermo sicher schnell ändern, dachte er. Michaels Blick fiel auf einen dunkelhaarigen, sehr schlanken Mann. Er trug einen tiefblauen Seidenanzug und auffällige Schuhe aus Lackleder, die vorne schwarz und dahinter weiß abgesetzt waren. Der Fremde hatte einen Aktenkoffer bei sich und lächelte Michael freundlich an. Der Junge lächelte zurück und bemerkte, wie dem Mann ein Schlüsselbund aus der Jackentasche fiel, als der ein Taschentuch daraus hervorzog. Michael bückte sich rasch und nahm den Bund, an dem sich zwei Schlüssel befanden, die von einem sehr seltsam gebogenen Ring zusammengehalten wurden, in die Hand. Der Mann bedankte sich beinahe überschwänglich, als er sein Eigentum zurückerhielt. Auf einem Teil des Schlüsselanhängers war eine Gravur zu sehen gewesen, die einem Drachen ähnelte. Der Junge fühlte sich von dem Emblem merkwürdig berührt und drehte sich zu seiner Mutter um. Carlotta führte ihn energisch weg zu dem Platz, an dem sein Vater mit den Flugtickets wartete. Das Boarding begann. Michael musste wegen der zusammenhängenden Sitzplatzkarten bei den Eltern bleiben. Später suchte sein Blick im Flugzeug nach dem Fremden. Aber er konnte ihn nicht mehr ausmachen.
Er wurde müde und merkte gar nicht, wie er langsam einschlief. Er sah im Traum eine kleine Insel auf sich zukommen und betrachtete verzückt das in der Sonne glitzernde blaue Meer davor, auf dem sich unzählige winzige weiße Punkte zu tummeln schienen, die bei näherer Betrachtung zu wiederum unzähligen weißen Segeln gehörten, welche Teile von Yachten waren. Ob der Onkel auch ein Boot besaß? , fragte er sich. Wie gerne würde er einmal über diese im gleißenden Sonnenlicht auf und nieder blinkenden, mit geheimnisvoller Leichtigkeit in der Bewegung ausgestatteten herrlichen Wellen gleiten, das Salz aus der Luft auf seinen Lippen schmecken und den warmen subtropischen Wind auf der Haut spüren können. Der afrikanische Kontinent lag nur einen Flügelschlag weit entfernt und dort begann der Zauber einer fremden Welt, die gleichzeitig in schicksalhafter Weise blutgetränkt die alte und die neue Welt miteinander verband. Von Sizilien aus wurde im zweiten Jahrhundert vor Christi die Stadt Karthago durch die Römer zerstört. Zwei Jahrtausende waren seitdem vergangen und nichts hatte sich an der atemberaubenden Schönheit der Insel geändert. Ein eisiges Frösteln durchzuckte den Vierzehnjährigen plötzlich, und Gänsehaut bildete sich auf seinen Armen. Etwas in ihm verlangte die anhaltende Berührung durch die warmen Sonnenstrahlen und bestärkte ihn, jedes einzelne, auch noch so kleine Detail des Fremdartigen gierig in sich aufzusaugen. Etwas animalisch Schönes und Faszinierendes hatte von ihm Besitz ergriffen und war nun im Begriff, seine junge Seele in so genialer Weise durchzurütteln, dass ihm beim Gedanken daran Tränen in die Augen schossen. Michael fühlte sich, wie noch nie zuvor in seinem Leben. Dann kam eine andere Kraft auf ihn zu und zog ihn in ihren Bann. Er hörte tief in seinem Inneren eine warnende Stimme. Jede Medaille besitzt zwei Seiten, das Gute das Schlechte, das Schöne das Hässliche, die Liebe den Hass. Der Zauber, der ihn so sanft einhüllte und hoch in den Himmel zu tragen schien, würde seinen Preis haben und er musste sich entscheiden. War er bereit, diesen zu bezahlen? Für die Hoffnung auf ein einmaliges Glücksgefühl? Niemand konnte ihm helfen. Er musste seinen Weg allein finden. Ein tiefes Geheimnis würde sich ihm offenbaren, für immer an sich binden und sein Leben verändern. Ein erneuter Schauer lief über den Rücken des Jungen. Erst brachte er ein wohliges Frohlocken mit, doch im nächsten Moment schien es, als würden Blitz und Donner auf den Schlafenden herniederfahren, ihn verschlingen und in die offene heiße Flamme der Hölle stoßen. Dort stand er einem nach Schwefel stinkenden und grässlich anzuschauenden Teufel gegenüber. Sollte er den Weg des Bösen einschlagen, würde es für ihn kein Entrinnen mehr geben. Schreckliche Fratzen, Bilder von blutgetränktem Boden, Leichname, in grausamer Weise zerstückelt, die kaum erkennen ließen, dass sie vor kurzer Zeit noch lebendige menschliche Wesen gewesen waren, Tod und Verderben, zogen vor seinem inneren Auge vorbei. Danach trat das Frösteln erneut auf und er spürte etwas Liebliches auf seiner Zunge zergehen. Die Zuckerwaren hießen: Macht, Ansehen und unermesslicher Reichtum. Michael öffnete erschrocken die Augen und dachte einen Moment lang an seinen geheimnisvollen Traum. Verwundert schüttelte er darüber den Kopf. Währenddessen zog das Flugzeug routinemäßig kleinere Kreise über Palermo, um langsam in den Sinkflug überzugehen und schließlich ganz sacht zur Landung anzusetzen. Fasziniert betrachtete der gebürtige junge Sizilianer die Landschaft neben dem Rollfeld. Eine wundervolle Ferienzeit lag vor ihm. Er freute sich auf die Begegnung mit den unbekannten Verwandten und auf ein herrliches Abenteuer, welches er in diesem Sommer auf Sizilien, wo sich in einmaliger Weise landschaftliche Schönheiten mit dem Feuer der Erde verbanden, erleben durfte. Hier hatte die Geschichte Jahrtausende überdauert und war längst selbst wieder zur Geschichte geworden. Himmel und Hölle existierten in mehrfacher Hinsicht gleichzeitig nebeneinander.
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