„Findest du das nicht reichlich kindisch? Winnetou lässt grüßen. Also, für erwachsene Männer ist so etwas doch ziemlich albern, oder?“, meinte Michael. Ohne Stefanos Bestätigung abzuwarten fuhr er fort: „Wir sollten uns etwas Moderneres überlegen. Vielleicht ein gemeinsames Tattoo, was meinst du?“ Stefano dachte nach.
Er fand die Idee auf Anhieb gut. Es war wirklich an der Zeit, die verstaubten Rituale etwas aufzupolieren und dem einundzwanzigsten Jahrhundert anzupassen. Fast jeder trug heute Tattoos oder Piercings. Auf jeden Fall sollten die Umrisse Siziliens darauf zu sehen sein. Er erzählte Michael, der sofort begeistert zustimmte, von seinen Vorstellungen. Es war die Geburtsstunde für ein gemeinsames Erkennungszeichen, wo immer sich Mitglieder der einzelnen Familien auch begegnen würden. Die Umrisse ihrer Heimatinsel musste sie zusammen schweißen. Auch sollte kein Sizilianer nach Michaels Willen einen anderen Sizilianer bekämpfen, nur, weil sie verschiedenen Familien angehörten. Geschäftsfelder sollten die Oberhäupter in regelmäßigen Abständen festlegen und alles gerecht unter einander aufteilen. Auch Streitfragen würden nur noch in der Chefetage entschieden. „Was hältst du davon, wenn wir in die Umrisse das Bild des Monte Pellegrino, als Zeichen unserer Familie, setzen? So kann jede Familie innerhalb der Umrandung ihren eigenen Herkunftsort festlegen. Buchstaben finde ich nicht gut, weil sie zu leicht zu entschlüsseln sind. Aber, so ein Bild ist unverfänglich und sagt nur aus, dass der Träger von Sizilien kommt“, meinte Michael. Die beiden überlegten fieberhaft weiter. Möglicherweise fand die Idee auch Anklang bei Touristen, die sich das Tattoo als Liebeserklärung an ihre Insel stechen ließen. Auf diese Weise erhöhte sich die Zahl der Träger und die Polizei hätte Schwierigkeiten das Tattoo als Erkennungsmerkmal einer Mafiafamilie zuordnen zu können. Die Planungen bereiteten den Jungen so viel Spaß, dass Stefano erschrocken kurz vor Mitternacht auf die Uhr sah. Er verabschiedete sich schnell. Als er auf seinem Mofa saß und nach Hause fuhr, fühlte er sich plötzlich viel erwachsener.
Am nächsten Morgen betrat Michael schon vor dem Frühstück das Arbeitszimmer des Onkels. Nachdem er einige Routinearbeiten am PC erledigt hatte, startete er das eigentliche Programm und loggte sich dann mit Tonios Passwort in den Las Vegas Rechner ein. In wenigen Augenblicken besaß er eine Kopie aller Daten. Er tarnte den Zugriff sorgfältig, obwohl er nicht daran glaubte, dass seine Anwesenheit überhaupt von irgendeinem der Mitarbeiter des Don bemerkt werden würde. Die Kontoführung sah schlampig und dilettantisch aus. Keiner aus dem Kreis derjenigen, die die illegalen Geschäfte tätigten, besaß eine höhere Schulbildung, geschweige denn ein Hochschulstudium in Informatik oder BWL. Michael las sich kopfschüttelnd durch einen Berg unsortierter Belege und war einige Male kurz davor zu verzweifeln. Er hatte ja auch noch keine kaufmännische Ausbildung gehabt und musste sich an die Vorgaben des Programmes halten. Doch damit verstand er die Grundlagen der Buchführung. Jede Buchung muss nachvollziehbar sein, keine Buchung darf ohne Gegenbuchung vollzogen werden und die Summen auf beiden Seiten von Soll und Haben sollten stets dieselben sein. Konzentriert las er die Angaben auf den Belegen und ordnete diese dem jeweiligen Block zu. Ausgaben für Lieferanten waren deutlich erkennbar, Einnahmen aus den Verkäufen von Getränken ebenfalls. Michael arbeitete sich wachsam durch die elektronisch erstellten Papiere hindurch. Immer wieder tauchten runde Beträge auf, die dann plötzlich nirgendwo mehr aufzufinden waren. Stattdessen fand sich bei der Überprüfung der Bankbelege von Onkel Tonios Hausbank in Las Vegas stets ein Minus. Die eigentlich als Einnahmen gebuchten Summen aus dem Spielbetrieb wurden auf unheimliche Weise zu Ausgaben und minderten die Überweisung auf die italienische Hausbank. Tonio war überrascht, als er kurz vor dem Frühstück die Bürotür öffnete und seinen jungen Neffen bereits eifrig arbeiten sah.
„Gut, dass du kommst, Onkel Tonio. Schließ bitt die Tür, ich muss dir etwas zeigen“, bat der Junge mit gemischten Gefühlen und den Umständen entsprechend ernster Miene. Tonio, dem nicht so wohl in seiner Haut war, nahm sich einen Stuhl und setzte sich neben ihn. „Ich habe versucht das Chaos zu ordnen. Siehst du, auch wenn man von Buchführung nicht viel Ahnung hat, arbeitet das Programm leicht verständlich. Hier sind die Einnahmen und dort kannst du die Belege dazu ansehen. Wenn man die Ausgaben dagegen rechnet, müsste dieser Betrag am Ende des Monats April übrig bleiben und dieselbe Summe müsste man auch auf der Banküberweisung wieder finden.“ Michael blickte den mit allen Wassern gewaschenen Mafiaboss von der Seite an, welcher zustimmend nickte. „Und was ist hier auf meinem Konto angekommen, mein Sohn, spanne deinen alten Onkel nicht so auf die Folter“, lächelte Tonio, den längst ein sehr unbehagliches Gefühl bestrichen hatte.
Michael tippte auf die entsprechende Computertaste und zeigte dem entsetzten Paten dessen Kontoauszug. „Wie lange, läuft das schon so? Ist das jeden Monat dasselbe und wie viel Geld fehlt?“, schluckte dieser leise. „Ich habe mit Beginn dieses Jahres angefangen und alle Belege für das Geschäftsjahr geprüft, sortiert und an die richtige, vom Programm geforderte Position gesetzt. Die Belege vom letzten Jahr muss ich noch ordnen und die Jahre davor, muss ich manuell aus den Aktenordnern zusammen suchen. Die sind noch nicht in dem System erfasst, aber sie müssen in Vegas existieren. Die ganze veruntreute Summe kann ich dir deswegen noch nicht nennen und ich will das auch alles noch einmal überprüfen. Vielleicht findet sich das Geld auf einem anderen Konto. Du wirst ja mit mehreren Banken in den Staaten arbeiten und ich habe gesehen, dass du in Chicago auch noch einige Buchmacher Betriebe hast. Vielleicht haben sie versucht, etwas von den illegalen Einnahmen zu waschen. Für dieses Jahr fehlen mir bereits 800000,- Dollar und zwar auf den Cent genau. Das ist bei einem Geschäftsbetrieb ungewöhnlich und es sieht so aus, als wenn immer wieder Beträge gezielt aus der Kasse entnommen wurden.“ „Michael, du versprichst mir, niemand etwas zu erzählen, auch Elli nicht“, flüsterte Tonio und seine Hand ballte sich zur Faust. Michael lächelte. Das hatte er bereits geahnt. „Ich werde jetzt alles noch einmal durchgehen und du setzt dich an meinen Laptop. Ich spiel dir das letzte Jahr, dass ich noch nicht gesichtet habe darauf, und zeige dir, wie du die Belege aufrufen und dann einordnen musst. Es ist eigentlich ein kinderleichtes System. Überleg bitte, wer alles mit dem Spielhallenbetrieb betraut ist, wo du noch Konten hast und wer Zugang zu deinen sensiblen Daten hat. Ich will jetzt ein Bankenspähprogramm installieren, damit kann ich mich in deine Bank in Vegas hacken. Ich will sehen, wer von deinen Mitarbeitern dort welche Konten unterhält und wie hoch die Guthaben sind, und ob noch weitere Konten bei anderen Banken bestehen.“ Tonio nickte schwerfällig mit dem Kopf und streichelte traurig über das Haar des Jungen. Dann stand er auf und bestellte bei Maria zweimal Frühstück in sein Arbeitszimmer. Er bat, nicht mehr gestört zu werden. Tommaso half in der Küche und blickte seinen Chef aufmerksam von der Seite an. Er hatte ihn noch nie so blass gesehen. „Wenn ich etwas tun kann, lassen Sie es mich wissen, ich habe zwar heute Mittag frei, aber ich kann hier bleiben, wenn Sie mich brauchen“, bot sich der junge Mann an, der in Tonio eine Vaterfigur sah. Tonio legte seine Hand fast liebevoll auf die Schulter des treuen Mitarbeiters.
Nach gut drei Stunden hatte sich Tonio selbst ein Bild vom Ausmaß der Katastrophe gemacht. Die fehlende Summe ging in die Millionen und es waren nur zwei Jahre überprüft worden, die sich bereits im rechnergesteuerten System befanden. Michael lehnte sich stolz in seinem Chefsessel zurück. Er hatte eine Liste aller Mitarbeiter erstellt, die in Las Vegas Zugang zum Büro besaßen. Dann verglich er die Belege mit den Unterschriften. Alle Fehlbeträge wurden von nur zwei Mitarbeitern unterschrieben. Es handelte sich um Carlo Marin, den Geschäftsführer, und dessen Vertreter, Roberto Moreno. In der Zwischenzeit war auch das Hackerprogramm erfolgreich gewesen. Die meisten Mitarbeiter unterhielten ihre Privatkonten ebenfalls bei der Geschäftsbank seines Onkels. Michael recherchierte sorgfältig und fand lediglich auf den jeweiligen Konten der beiden Geschäftsleiter Auffälligkeiten. Beide besaßen zusätzlich Konten bei einer Bank auf den Caymaninseln. Ein kurzer Mailkontakt zu seinem Hamburger Freund Christoff brachte ihm den Schlüssel und das Passwort für den Zugang dort. Michael atmete auf. Gleichzeitig schlug sein Herz wie wild, so dass auch Tonio von der Arbeit neugierig hochblickte. Sofort eilte er an seinen Computer. Er wollte nicht glauben, was ihm der Monitor anzeigte. Marin und Moreno unterhielten tatsächlich jeweils ein Konto im karaibischen Steuerparadies und die beiden Summen ergaben einen siebenstelligen Betrag. Die Männer wurden gut bezahlt, doch solche Gewinne konnte man davon nicht erwirtschaften. Die ersten Einzahlungen datierten auf Januar vor vier Jahren. Damit war der Beweis erbracht. Beide hatten ihre Vertrauensstellung missbraucht und Don Tonio betrogen. Der spürte Wut und Trauer zur selben Zeit und wollte sich gerade vom Bildschirm abwenden, als er einen ihm sehr vertrauten Namen auf der Liste las. Martino Rezzo war sein bester Freund aus Kindertagen und gleichzeitig sein Anwalt. Tonios zitternde Hand zeigte auf die Eintragung. Michael verstand ohne Worte und öffnete das Konto. Auch dort fand sich ein Millionenbetrag, den Rezzo niemals auf normale Weise erarbeitet haben konnte. „Wer ist das?“, fragte Michael interessiert. „Mein Freund und Anwalt Martino Rezzo, wir sind zusammen aufgewachsen. Ich vertraue ihm mein Leben und meine Familie an“, schluchzte Tonio und zog ein Taschentuch aus der Hosentasche. Michael sah erschrocken und ergriffen zu seinem Onkel. Es musste das erste Mal in dessen Leben sein, das diesem Tränen über das Gesicht liefen. Michael versuchte seine Emotionen unter Kontrolle zu halten. Der Onkel tat ihm unendlich leid. Gleichzeitig war es gut, dass er den Verrat aufgedeckt hatte, denn wer wusste schon, ob ein späterer Zeitpunkt günstiger gewesen wäre. Michael ahnte, was den Verrätern bevor stand und er fühlte kein Mitleid mit ihnen. Die Männer waren nicht miteinander verwandt, dennoch gehörten sie zu einer Familie. Betrug und Verrat innerhalb der eigenen Reihen konnte und durfte es nicht geben. Man vertraute seinen Leuten das eigene Leben und das der Frauen und Kinder an. Michaels Gehirn begann zu arbeiten. Als erstes musste er dafür sorgen, dass das Geld jederzeit von ihm per Mouseclick von den Caymankonten zurückgeholt werden konnte. Danach mussten sie an Ort und Stelle ein neues Softwareprogramm auf den Vegas Rechner installieren und alle Ordner der letzten vier Jahre dort eingeben. So würde er die gesamte gestohlene Summe erfahren.
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