Tobias Hafner
Verliebte Träume
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Inhaltsverzeichnis
Titel Tobias Hafner Verliebte Träume Dieses ebook wurde erstellt bei
Kapitel 1: Junge Jahre
Kapitel 2: Abschied
Kapitel 3: Dosengeheimnisse
Kapitel 4: Der Fluss
Kapitel 5: Die Einsamkeit der Zahlen
Kapitel 6: Begegnungen
Kapitel 7: Suche
Kapitel 8: Wackelkontakt
Kapitel 9: Grenzenlos
Kapitel 10: Neuanfang
Kapitel 11:
Kapitel 12: Gefährliche Treffen
Kapitel 13: Der Tag der toten Ente
Kapitel 14: Die Waldfee
Kapitel 15: Lippenbekenntnisse
Kapitel 16: Fertig lustig
Impressum neobooks
Ich hatte schon immer eine Affinität für Anfänge. Alles Neue ist besser, da gehe ich mit berühmten Männern einher. Natürlich nicht immer, aber oft. Sicherlich zu Beginn von etwas! Wenn man Anfänge liebt, so wie ich es tue, fragt man sich unwillkürlich, wo der Anfang eines Anfanges liegt. Die Menschen spazieren verständlicherweise nicht durch die Welt und denken sich: "Jetzt fängt es an." Diese Überlegung ist ähnlich absurd, wie wenn man sich bei jedem Schmetterling fragt, ob er wohl der Letzte des Jahres wäre. Trotzdem wünscht sich das kausale Wesen in uns einen Anfang, deshalb gibt es ein Neujahr oder einen Urknall. Wir lieben die tiefen Schnitte oder Brüche im Zeitstrang, die uns die schönsten Aha-Erlebnisse abnötigen.
Ein angemessener Auftakt, da werden mir Eltern sicherlich beipflichten, wäre die Geburt. Wohingegen der Arzt in seiner wohl überlegten Kompetenz darauf hinweisen würde, dass der Samen dieses wichtigen Ereignisses neun Monaten vorher gepflanzt wurde. Woraufhin die Eltern wiederum an ein Lächeln im Zug denken, welches die ganze Geschichte ins Rollen gebracht hatte. Die Grosseltern insistieren in diesem Moment abermals heftig und verweisen auf ihre eigenen unübertrefflichen Liebesgeschichten. Aus diesem Grunde kann man froh sein, wenn man nicht sämtliche Generationen zur Geburtsstunde einlädt und eine Grundlagendiskussion bezüglich Anfänge anfängt. Tatsächlich könnte man die Diskussion mit Philosophen und Theologen weiterführen und zuschauen wie der Anfang eines Krieges entsteht.
Soweit möchte ich natürlich nicht gehen und deshalb beginnt diese Geschichte mit einem lauen Frühlingswind, der seinen Ursprung dem Druckunterschied einer sibirischen Schlechtwetterzone und der überbordenden Lebendigkeit des atlantischen Ozeans zu verdanken hat. Man darf sich dadurch nicht zur Annahme verleiten lassen, Unterschiede als Ursache des Lebens zu sehen! Wahrscheinlich verdanken die verschiedenen Existenzen ihre Lebendigkeit einfach der Erde, die leicht schräg und rund in unserem Sonnensystem steht.
Der Wind flog also von der französischen Küste mit brackigem Geruch den weiten Weg über die Bretagne, hielt sich im Centre tief über dicht besiedeltem Gebiet, um sich mit Russpartikeln der lokalen Industrie anzureichern und den zivilisatorischen Geschmack in der Bourgougne an dezent herben Weintrauben abzugeben. Die jurassischen Alpen dienten der Trocknung der letzten Meeresfeuchte und hinterliessen einen Eindruck von nicht überragender Höhe, dafür kühler Erfrischung. Als er dann endlich seinen Weg zu mir gefunden hatte, war die winterliche Kälte längst verflogen und er durchwirbelte die junggrünen Blätter. Er roch nach einem neuen Jahr und spielte mit meinen Fingern und Haaren, währenddem ich selbst unserem Ursprung alle Ehre machte: Hoch auf dem Baum sprang ich von Ast zu Ast mit dem Wind um die Wette.
Meine Gedanken waren damals selbstverständlich nicht bei Anfängen, Druckunterschieden und unserer kulturellen Eigenart, uns selbst das Leben schwerer als nötig zu machen. Dies wäre auch eine zu schwierige Kindheit gewesen. Nein, meine Gedanken waren wie weggeblasen. Wie es sich für ein Kind in meinem Alter gehörte, sog ich die Luft gründlich ein, spannte meine Backen und stellte mir vor, wie ich in die Luft stieg. Ähnlich einem Wetterballon, der sich auf einen grossen Flug vorbereitete. Mein Gesicht wurde zuerst tiefrot bis allmählich ein blauer Teint durchschimmerte.
"Lukas, das sieht ganz übel aus. Musst du aufs Klo?"
Dieser situationsgerechte Satz stammte von Thomas, der sich der Fantasie eines Dreissigjährigen Mannes rühmen konnte, dessen Arbeitstag völlig von Zahlen und Zählen vereinnahmt wurde. So wie die Erwachsenen sich an Kriegsspielzeugen erfreuen konnten und sich zuweilen Kriege ohne Konsequenzen wünschten, so lag das volljährige Alter als verheißungsvolles Land der unbeschnittenen Freiheiten manchmal vor meinen Augen, ohne mir den haushohen Regeln bewusst zu sein, unter denen ich als Kind durchschlüpfen konnte. Kurzum: Thomas hatte mit seinem frühreifen Verhalten eine nicht durchschaubare Anziehungskraft auf mich.
"Ich versuche mit dem Wind um die Wette zu fliegen!" antwortete ich und merkte dabei, dass ich nicht sprechen und gleichzeitig die Luft anhalten konnte. So würde ich nie gewinnen!
"Na dann hoffe ich, der Wind dreht Richtung Kindergarten, denn dort müssten wir in fünf Minuten sein". Im Hintergrund läutete die Kirche neun Mal.
"Ich korrigiere: wir müssen genau jetzt dort sein."
Thomas' Korrektheit konnte man nur mit Ignoranz begegnen, ich hatte auch schon etwas Neues entdeckt.
"Hey Thomas, schau mal! Hier bildet sich gerade eine neue Ameisenstrasse!" Ein wahrlich seltener Moment tat sich hoch über der Erde auf. In einem unbewussten Gedanken an eine eigene gefahrenvolle Zukunft, legte ich Äste und Steine in den Weg und beobachtete die verschiedenen Ausweichstrategien der Ameisen. Thomas klatschte mit seiner Hand an die Stirn, was er damals öfters tat und wohl auch seinen Mangel an Fantasie erklärte.
"Selbst wenn Biene Maja persönlich vorbeifliegen würde, ich gehe jetzt!", und ging so schnell wie sechs jährige Beine einen kleinen Jungen tragen konnten, Richtung Kindergarten.
Mag sich Thomas' Anziehungskraft mit den unbegrenzten Möglichkeiten der Zukunft erklären, war mir aber nie klar, weshalb Thomas darauf bestand mein Freund zu sein. Für mich war er damals regelrecht ein Glücksfall. Ich hörte meine Kindergärtnerin oft sagen, mit mir sei Hopfen und Malz verloren. Meine Mutter meinte auf meine Frage, was das sei: "Sicherlich nicht dein Bier, mach dir keine Sorgen." Eigentlich sah es im zweiten Kindergartenjahr fast so aus, als müsste ich schon da eine Ehrenrunde drehen. Ich konnte zwar sämtliche Spiele, lernte leichthin das Zählen und meine Schuhe binden, aber ich wollte nicht. Weder die Spiele noch das Zählen oder meine Schuhe binden. Wieso auch?! Ich würde für immer Klettverschlussschuhe tragen. Um mit Wind um die Wette zu fliegen, brauchte ich nicht zu zählen und meine eigenen Spiele waren um Welten besser, als die vorgefertigten Regelwerke. Nein, das Schulwesen war nicht mein Ding. Es hatte sich schon in meinen jungen Jahren in ein fantastisches Monster verwandelt, welches es zu bekriegen galt. Und sei es mit banaler Unpünktlichkeit. Da tauchte plötzlich Thomas auf, welcher sich in kürzester Zeit viele Freunde machte. Unter anderem auch mit mir. So wurde er mein Berührungspunkt zum Kindergarten und den anderen Kindern. Er sorgte dafür, dass ich doch einigermassen pünktlich kam. Wie er dies schaffte, konnte man gut und gerne einem achten Weltwunder zurechnen. Frau Huber, meine Kindergärtnerin, stellte erleichtert Fortschritte fest, zog ihr Begehren zur Sonderschule schnell zurück und ich konnte meinen schulischen Werdegang weiterhin unbekümmert fortsetzen.
Es war fünf nach neun, als sich die Ameisenstrasse früher als erwartet auflöste und ein ungutes Gefühl bezüglich eigener Zukunft hinterliess. Wenn schon die Ameisen mit einfachen Astabbrüchen, riesigen Blattbarrieren und mörderischen Sonnenlinsen nicht klar kamen, wie sollte ich bloß überleben. Ich nahm meine Utensilien zusammen und blickte über die Wiese. Sie war noch feucht und die kerzengerade Linie von Thomas zeichnete sich deutlich ab, so dass mir die Erklärung, ich fände den Kindergarten nicht, etwas trivial vorkam. Wohl überlegt legte ich aber noch vorsichtig eine falsche Fährte um den Ameisen einen Racheakt zu ersparen und ging nach einer Viertelstunde und einer flachen Wiese glücklich und zufrieden in den Zirkus der dressierten Nachkommenschaft, wie ich den Kindergarten insgeheim nannte. Dort sassen immer noch alle in der Runde und hörten Frau Huber aufmerksam zu, weshalb man ihrem Worte Folge leisten sollte. Ich schaffte es unbemerkt an meinen Platz zu sitzen.
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