Die Gedanken an Frau Huber mit einem sorgenvollen Blick brachten mich sofort wieder auf die Beine. Ich räusperte mich. "Nein, lass mal, es geht schon. Du weisst nicht zufällig wo diese Silvia wohnt?".
Thomas wurde misstrauisch: "Was willst du denn von der, bist du in sie verliebt?" "Verliebt?" ich liess mir das Wort auf der Zunge vergehen. Bisher war ich diesem Wort nicht im positiven Sinn begegnet. Ich brachte es mehr mit einer Herzkrankheit in Verbindung. Meine Mutter war jede Woche verliebt, meist schien sie dabei nicht glücklich zu sein.
"Hm, vielleicht…"
"Wie fühlt es sich denn an?"
Ich dachte lange nach. "Leicht, flockig, wolkig. Wie die ersten Meter auf dem Fahrrad, ohne Stützräder. Wie wenn du in den Spiegel schaust und deine Mutter plötzlich von hinten auftaucht, dich anlächelt und umarmt. Wie wenn du auf dem Rücken auf dem Gras liegst und den Wolken nicht nur zuschaust, sondern gleich mit ihnen fliegst. So muss sich wohl ein Vogel fühlen, der das erste Mal spürt, wie ihn seine Flügel in die Lüfte tragen. Als ob du..."
"Lukas..."
"Ja?"
"Du brabbelst. Komm wir gehen rein, die Pause ist vorbei. Ach, und was ich noch sagen wollte."
"Ja?"
"Silvia verdreht sich jeden Morgen die Augen, wenn du zu spät kommst!"
"Aha..."
Der verbleibende und viel zu kurze Rest des Tages verschwand in heimlichen Beobachtungen von Silvia. Ich versetzte Frau Huber in ungewolltes Staunen, als ich meine Freiwilligkeit in gemeinsamen Spielen unter Beweis stellte und mich an die Regeln hielt, ohne eigene, mir zusprechendere, zu erfinden. Es war ein Tag, an dem die Gedanken den Abend bedurften, um mit den Geschehnissen des Tages klarzukommen.
Man mag einem kleinen Jungen, wie ich damals einer war, mächtige Verwirrungen zubilligen. Ähnlich wie Milch, welche heiss gekocht wird und als weisser Schaum über den Pfannenrand tritt, suchten meine Gefühle, ungebremst durch den Deckel, den man gemeinhin Verstand nennt, das Weite. Und was ist weiter entfernt, als die kalt glitzernden weissen Punkte, die die Nacht mit halb fertigen Bildern vorzeichnet? So stand ich am Fenster und betrachtete neugierig und gleichzeitig beklemmend meine Empfindungen, welche als rosa Wolke unter den Sternen tanzten. Es ist nicht etwa der Verstand, der uns Menschen in unsere heutige zivilisierte und fortschrittliche Lage versetzt hat. Denn jeder Idee, jedem Wissen und Fortschritt kommt ein Gefühl zuvor, welches durch Hoffen und Sehnen unsere Gedanken huckepack nimmt und uns über uns hinaus trägt. Wären wir wunschlos glücklich und würden uns auf der Wiese von Gänseblümchen ernähren, hätten wir wohl fünf Mägen, würden uns mit einem Vokal unterhalten aber bestimmt nicht auf den Mond fliegen.
In diesem Sinne breitete sich die Hoffnung als stabiles Fundament aus und liess mich immer aberwitzigere Gedanken denken. War ich im ersten Moment noch bei Silvia und überlegte mir, wie ich ein Lächeln auf ihre Lippen zaubern konnte, dachte ich im nächsten Augenblick an die vielen anderen Schulklassen, die weitere Kinder enthielten. Und jedes Kind hatte eine eigene Welt, welche man entdecken konnte. Der Gedanke blieb aber nicht stehen, sondern entfaltete sich immerzu. Kinder, die in der Wüste, am Meer oder im Schnee spielten. Aber auch da war noch kein Ende in Sicht. Ich schaute hoch in das Sternengefilde. Um jeden dieser Diamanten konnten sich weitere blaue Planeten drehen, mit zusätzlichen Kindern und Welten. Angesichts der Tatsache, dass ich damals nicht weiter als bis zwanzig zählen konnte, eine wirklich unvorstellbare Zahl. Vielleicht kam das beklemmende Gefühl, welches die Euphorie begleitete, von meinem zählerischen Unvermögen, wahrscheinlicher ist aber die Tatsache, dass man selbst an Bedeutung verliert, wenn etwas anderes an Bedeutung gewinnt.
Man kann zurecht behaupten, dass sich das Leben als Schlüsselloch einer Tür präsentiert. Die unscheinbarsten Dinge werden dabei durch unsere eingeschränkte Sicht geheimnisvoll und spannend und bekommen eine übergrosse Bedeutung. Gleichzeitig wandern die richtig grossen Phänomene zwecks ihrer Fülle nie in den kleinen Ausschnitt und falls doch, wird er einfach verdeckt und dunkel. Wir Menschen rütteln nun in unserer Neugier beständig an der Tür und staunen geblendet, wenn sich plötzlich ein kleiner Spalt auftut. Ein Vorteil, den ein junger Mensch geniesst, ist die Bereitwilligkeit, mit der er sich einer neuen Erkenntnis entgegenstreckt, hingegen der Erwachsene die Neigung hat, die Türe schnell wieder zuzuschlagen. Bei mir grub sich der Blick von Silvia und die damit verbundene Schwärmerei tief ins Herz und vertrieb damit die jungen Sprosse von Ehrgeiz, Fleiss und Strebsamkeit gänzlich, was für mein zukünftiges Leben nicht ohne Folgen blieb.
Ich denke, man kann einem jünglichen Knaben, wie ich damals einer war, keine Passivität bezüglich Silvia vorwerfen. Da gibt es Männer, die sämtliche Regeln brechen, um einer Frau näher zu sein. Bei mir lief es mitnichten so. Im Gegenteil! Anfänglich versuchte ich die dünne Richtschnur einzuhalten, um den schmalen Grat zu erreichen, den eine Frau einem Mann zugesteht, wenn er ihr entgegenkommen möchte. Dabei ging es um Dinge wie individualistische Konformität oder regelbasierten Eigensinn, die ein erwachsener Mann mit einem tollen Auto, ja besser mit einem edlen Fingerring, vergeblich versucht auszudrücken oder gar riskiert mit einem wunderschönen Blumenstrauss die Angebetete zu beeindrucken. Ich habe jedenfalls noch nie von einem Mann gehört, der versucht einer Frau mit einem Glas Wasser im Briefkasten zu imponieren, auch wenn das Wasser sehr köstlich sein dürfte und diese Tat in der Tat einzigartig wäre. Als kleiner Junge standen mir diese Mittel natürlich nicht zur Verfügung. Dafür bekam ich den Hauch einer Ahnung, dass Frauen ihr Augenmerk auf Veränderung legen. Dieser an und für sich sehr sinnvolle Wunsch, das Leben ist schliesslich eine einzige Veränderung, bekommt der Mann beim Erstkontakt sehr zu spüren und bereitet ihm Kopfzerbrechen, da ausschliesslich der Frau und vielleicht nicht einmal ihr klar ist, in welche Richtung die Veränderung führen soll. Natürlich nur zum Besseren. Eine friedvollere Welt beispielsweise und da man stets im Kleinen beginnen soll, sind hier die geringfügigen Veredelungs- und Kultivierungspotentiale gemeint, die der Mann an den Tag legt und von der Frau schonungslos liebenswürdig aufgedeckt werden. Obwohl diese Kleinigkeiten, für den Mann eigentlich Nichtigkeiten, nicht wirklich der Rede wert sind, bringt die Summe aller gut gemeinten Ratschläge dann doch eine grosse Anstrengung mit sich. Grosse Anstrengungen kann man bekanntlich nur eine kurze Zeit aufrechterhalten, was eine vernünftige Erklärung ist, weshalb Männer zu Beginn einer Beziehung meisterhaft charmant sein können um dann nach Monaten ihr altes Ego raushängen zu lassen.
Silvia spielte dieses Spiel vorzüglich und am Ende wusste ich gar nicht mehr, wer ich war. Dieser Zustand wird gemeinhin als Verliebtheit bezeichnet, was ich aber so nicht als korrekt empfinde. Schliesslich kämpfen auch langjährige Ehemänner mit diesen Problemen und die sind wahrlich nicht mehr verliebt. Nun gut, ich hatte damals kein Auto, zumindest nicht in der richtigen Grösse. Tatsächlich hatte ich Silvia mit meinem Lamborghini-Modell 1:50 versucht zu beeindrucken, aber nur einen hochweiblichen Seufzer kassiert. So musste ich auf die unbeholfenen Möglichkeiten zurückgreifen, die einem Buben blieben. Unbekümmertes, interessiertes Schauen wurde von ihr mit dem Satz: "Glotz nicht so, Lukas!" quittiert. Letzten Endes versuchte ich verzweifelt einen bleibenden Eindruck in Form von Knüffen, schubsen und umwerfen zu hinterlassen, was mir auf unerwünschte Weise auch gelang. Zusammenfassend kann man wohl sagen, dass wir beide froh waren, den Schulwechsel als schicksalshafte Wendung eines sich abzeichnenden Beziehungendes zu interpretieren, da jeder in eine andere Klasse kam. Der Anhänglichkeit meiner Gedanken an das andere Geschlecht taten meine ersten Erfahrungen aber keinen Abbruch.
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