"Ich frage mich, ob die Liebe den Abschied so schwer macht, oder der Abschied die Liebe überhaupt ermöglicht" und Thomas ergänzte mit einem Satz, den ich nie vergass: "Vielleicht ist die Liebe ja da, um der Vergänglichkeit ein Schnippchen zu schlagen."
Wir starrten beide auf die herausgebrochene Steinwand und versuchten uns vorzustellen, wie vor Millionen von Jahren Schnecken an dieser Stelle dahingekrochen sind.
"Glaubst du, man erhält die Teile des Herzens wieder zurück, wenn man sie verschenkt?" fragte ich unvermittelt.
"Nein, das glaube ich nicht", antwortete Thomas nach längerem Nachdenken, "aber es werden Menschen kommen, die dir ihren Teil schenken."
Sein Blick fiel auf etwas Spiralförmiges: "Da, ich habe eine gefunden!"
"Das ist ein Schraubenabdruck, du Schnecke!" Wir lachten beide. Die Welt ist stets in Ordnung, wenn man sie mit einem Freund teilt.
Kapitel 3: Dosengeheimnisse
Das Landleben sei schön, sagt man. Mit frischer Luft, erdigen fröhlichen und pausbackenen Menschen. Zugegeben, es zeigte sich bei mir damals den Hauch einer Enttäuschung. Die lila Kuh war ein Trugschluss, die Hühner blieben auf ihren Eiern sitzen und die Luft roch zwar meist intensiv, aber selten frisch. Die Kuhglocken vertrieben die viel gerühmte Stille, gehörten aber als traditionelle Festlichkeit zur ländlichen Tageszeremonie, wie "Stille Nacht" zum Weihnachtsabend. Man legte Wert auf Ruhe und Ordnung und setzte diese auch kompromisslos mit einer Ausgangsperre für Jugendliche durch, damit diese ab 21:00 Uhr nur noch dem Gebimmel der Kirchenglocke, dem Rauschen der Autobahn und dem Rattern der Eisenbahn zuhören konnten. Obwohl mich dies selbst noch nicht tangierte, sahen die hiesigen Eingeborenen in mir doch immer noch ein süsser kleiner Fratz, glaubte ich darin die Wirkung von homöopathische Dosen der kleinkarierten Ackerfelder in ihren Köpfen zu sehen. Vielleicht war ich aber auch einfach noch zu klein, um die Erhabenheit des Erwachsenenverhaltens zu sehen und zu würdigen.
Das Land hatte aber durchaus seine schönen Seiten. Die langen Schulwege boten eine angenehme Abwechslung zum tristen Schulalltag. Im Winter, wenn man viel zu früh zur Schule musste, konnte man noch auf einen Blick auf ein Reh oder einen Fuchs hoffen. Die Strassen, Häuser und Plätze waren viel grosszügiger ausgelegt und an manchen Tagen konnte ich so weit blicken, dass ich glaubte, meinen Rücken weit entfernt zu sehen.
An diesem frühen Morgen lag ich bäuchlings auf der Erde und schaute den Feuerbauchmolchen beim Tauchen zu. Ich selbst hatte einen kalten Bauch, der Frühling wartete noch auf bessere Zeiten. Trotzdem oder vielleicht genau deshalb waren die Molche ziemlich zutraulich und sahen in stoischer Ruhe meiner Hand zu, wie sie sich im Wasser kühlte. Ein winziger Bach speiste den Weiher und nachdem er sich einen Moment ausgeruht hatte, floss er in kleinen Wellenstössen über das gegenüberliegende Ufer weiter. Es war ein kleines besinnliches Plätzchen am Waldrand und wir verbrachten oft unsere Zeit hier. Nur hie und da wurde, wie in diesem Augenblick, die Ruhe durch nervöse Schritte unterbrochen. Thomas war in Zeitnot.
"Wie kannst du nur so seelenruhig auf das Wasser starren! Die Schule fängt in zehn Minuten an!"
Ich stellte mir fünf Ausrufezeichen vor, die an mir vorbei schwebten, packte eines und stocherte damit gleichgültig im Wasser herum. Meine Handlung beruhigte ihn offenbar. Thomas setzte sich neben mich und nahm einen Plastiksack mit belegten Broten aus seinem Rucksack. Fein säuberlich legte er die Brote auf den Stein. Ich schaute misstrauisch hinüber. Thomas pausierte selten in seinem Stress und sein Essen teilte er schon gar nicht. Stumm legte er sich ebenfalls auf den Bauch, füllte den Sack mit Wasser und zog mit einer blitzschnellen Bewegung einen Molch aus dem Weiher in den Sack.
Triumphierend hielt er den Plastiksack in die Höhe und ignorierte dabei, dass der Sack nicht ganz dicht war.
"So, wir können weiter! Wir nehmen ihn nach Hause und da kannst du ihn so lange bewundern, wie du willst. Natürlich erst nach der Schule." Sein Arm wurde nass.
"Dein Arm wird nass" antwortete ich. "Du glaubst also, ein Molch in einem Aquarium ist das Selbe wie einer in freier Natur?"
Thomas dachte nach.
"Naja, es ist definitiv der gleiche Molch."
Natürlich hatte Thomas recht und lag aber trotzdem falsch. Es war der gleiche Molch, aber ob sein Verhalten in einem Aquarium das Gleiche wäre? Und wäre es für mich das Gleiche? Ich versuchte mich zu erklären: "Ein Molch zittert doch immer einen kurzen Moment, bevor man ihn fängt."
"Ja, das stimmt."
"Stell dir vor, dieses Erschaudern wäre eine Geschichte. Seine Geschichte. Die Geschichte eines Molches, der sein Leben liebt. Wie lange würde er noch Zusammenfahren, wenn er im Aquarium lebte? Wie lange würde er uns seine Geschichte erzählen?"
Thomas schwieg und sah den Molch an.
Ich fuhr weiter: "Vor ein paar Monaten war ich mit meiner Mutter im Zoo. Ich fand es toll, die Tiere, die ich bis da nur aus der Schule kannte, einmal in Echt zu sehen. Da kamen wir zum Elefantenbullen, der in einem einzelnen Gehege abgetrennt von der Herde sein Dasein fristete. Die Geschichte, die er erzählte, war unmissverständlich. Er wippte vor und zurück, immer an der gleichen Stelle. Er bewegte seinen Mund ohne Grund, schaute mit stumpfsinnigem Blick an einen mir unbekannten Ort. Ich schaute mich um. Und weisst du was? Jedem Tier fehlte etwas. Alle schienen von den kleinen Käfigen und der vorhandenen Nahrung träge und dösten mit halbgeschlossenen Augen vor sich hin. Der Überlebenswille oder gar Lebenswille fehlte komplett."
Ich kam richtig in Fahrt.
"Und weisst du, was ich am Erstaunlichsten fand?"
Thomas sah mich fragend an.
"Als wir dann mit dem Zug heimfuhren und ich die Menschen beobachtete, wie sie mit geschlossenen Augen auf der Sitzbank dösten, kamen sie mir wie die Tiere im Zoo vor. Sie haben ihren Platz, ihre Nahrung und nennen dies dann Leben. Dabei fehlt es doch an etwas." Das Wort lag mir auf der Zunge und wie so oft, schloss Thomas meine Gedanken: "Du meinst die Leidenschaft zu Leben." Und als er seine Worte sprach, leerte er den Inhalt des Plastiksackes wieder in den Teich zurück.
Wir sahen beide zu, wie der Molch tapfer unter den Stein schwamm. Kein Molch war jemals so hoch in der Luft gewesen und wieder zurückgekehrt. Er hatte bestimmt viel zu erzählen.
"Und deine Mäuse?" hackte Thomas nach.
Mir wurde plötzlich bewusst, wie spät es war und ich fing an zusammenzupacken. "Was soll mit denen sein? Du, wir müssen gehen! Sonst kommen wir zu spät."
"Sie sind ebenfalls gefangen. Haben sie die Leidenschaft zu leben noch oder leiden sie schon?"
"Keine Ahnung" murmelte ich vor mich hin, packte meinen Rucksack und lief los. Thomas sprang mir hinterher.
"Wie meinst du, keine Ahnung?"
Ich seufzte: "Ich habe sie vor drei Monaten ausgesetzt. Nach dem Zoo-Besuch taten sie mir leid und ich wollte ihnen die Freiheit schenken."
Thomas hatte schon mit jungen Jahren die Fähigkeit, mittels rhetorischen Bemerkungen und Fragen, die Menschlichkeit seines Gesprächspartners aus den Adern zu pressen, so dass sie sich sichtbar vor den eigenen Füßen als ölige Pfütze sammelte.
"Vor drei Monaten lag doch noch Schnee..."
"Ich habe sie im Wald ausgesetzt!"
"Es waren Feldmäuse..."
"Ich habe ihnen Nahrung für zwei Monate dagelassen!"
"Apropos Nahrung. Wusstest du, dass es viele Waldkäuze gibt, hier auf dem Land?"
"Ich habe ihnen eingeschärft, dass sie aufpassen sollen!"
"Lass mich zusammenfassen: Zwei Feldmäuse aus der Stadt, die noch nie in der freien Natur waren, setzt du mitten im Wald mit einer Packung Nahrung aus. Wahrscheinlich noch um Silvester, wo es in der Nacht nur so kracht und ballert."
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