In der Schule hörte ich dann das erste Mal, dass wir Menschen von Affen abstammten. Für mich war das ein etwas abenteuerlicher Gedanke, konnte aber als vernünftige Erklärung für das Verhalten von mir bekannten Personen herangezogen werden. Zumindest in eigener Person war nun klar, weshalb man mich immer wieder auf Bäumen fand. Wie auch diesen frühen Morgen, der die Stadt mit einem glutroten Sonnenaufgang beehrte. Ich hatte keine Augen für den Aufgang, sondern sorgte mich mehr um den Abgang einer Amsel. Sie war bis zu meiner Ankunft mit einem Nestbau beschäftigt und konnte sich nun nicht entscheiden, ob ich ein Feind oder nur ein Übel war.
Angespornt über die Menschenaffen-Erkenntnis fragte ich mich, was uns Menschen denn von Tieren unterschied. Die Amsel beäugte mich und ich warf einen misstrauischen Blick zurück. Vielleicht war die Frage falsch gestellt. Was unterscheidet die Tiere von uns Menschen? Die Amsel sah natürlich aus und verhielt sich wie eine Amsel. Ich konnte zu recht behaupten, dass sie eine Amsel war. Aber die Menschen? Ich schaute hinunter und sah Menschen teilnahmslos zur Arbeit gehen. Sie wirkten mehr wie Bienen oder Ameisen. Eine Gruppe hielt genau unter meinem Baum an und ich beobachtete sie. Offenbar mussten sie sich für die nächsten Schritte entscheiden. Dabei schien sich die Richtung durch den gegenseitigen Abstand zu ergeben und war der Willkür des am weitesten ausschreitenden Mitglieds ausgesetzt. Das waren dann wohl Zugvögel. Gedankenvoll blickte ich die Strasse hinauf und in meine Erinnerungen hinein und sah faule Löwenmännchen, einsame Steppenwölfe, feige Hasen und störrische Esel. Was ich aber damals nicht sah, waren Menschen.
Die Amsel überwand ihre Furcht und flog kurze Strecken um das Material für ihr Nest zu besorgen. Es machte Spass ihr zuzuschauen und sie erinnerte mich daran, dass ich in Kürze ebenfalls mein Zuhause neu bauen musste. Zugegeben etwas grösser und ohne die Äste und Federn. Trotzdem würde ich das Leben hier hinter mir lassen und irgendwo auf dem Lande, ich wusste nicht genau wo, ein neues beginnen. Zu diesem Zeitpunkt war mir nicht bewusst, dass man immer etwas hinterliess. Einen Eindruck, ganz leicht, wenn man nur kurz auf der Stelle trat. Oder ein Gedanke, der wie ein fahler Nebelfetzen an einem Baum hing und von jemand anderem zu Ende gedacht wurde. Oder man hinterliess eine Erinnerung von sich. Von einem Festessen mit Cervelats, affenartig gegessen mit den Füssen. Oder am schönsten und schlimmsten: ein Gefühl von sich, welches mit dem alten Ort verbunden ist, ein Gefühl eines Zuhauses. Nein, diese Dinge waren mir nicht bewusst. Ich freute mich auf das Neue und Unbekannte. Auf lila Kühe, die grüne Wiesen frassen und dabei die Quelle von weisser Milchschokolade wurden. Hühner, die täglich ein ganzes Ei direkt in die Kartonverpackung legten. Bäume so gross und dicht, dass man kilometerweit von Ast zu Ast klettern konnte ohne jemals den Boden zu berühren.
"Hey Lukas, komm endlich vom Baum herunter!". Ein Grund, weshalb ich sorgenlos in die Zukunft blickte, war sicherlich auch das Wissen, dass sich Thomas' Familie entschieden hatte, ebenfalls mit uns aufs Land zu ziehen. Genauer gesagt waren sie schon auf dem Lande. Thomas war schon vor drei Wochen abgereist. Interessanterweise fiel mir der Zusammenhang von Thomas' physischer Abwesenheit und psychischer Anwesenheit nicht auf. Wahrscheinlich hatte ich seinen ungeduldigen Ruf schon zu oft vernommen. Trotzdem befolgte ich die Aufforderung und angelte mich die Äste runter. Wenigstens am letzten Schultag konnte man des guten Willens wegen pünktlich sein.
Um die Langweile der Schule zu vertreiben, betrieb ich seit Monaten ein neues Spiel. Ich entschied mich jeden Morgen, in wen ich verliebt sein wollte. Manchmal war es Evelyn, dann wieder Bettina oder Sandra. Ich konnte die Verliebtheiten nicht jedes Mal steuern, aber den Gefühlen eine Richtung vorgeben. Besonders schlecht gelang es mir, wenn mich eine der dreien aus unerfindlichen Gründen anlächelte oder mich in der Pause ansprach. Weshalb es mir wichtig war, sich nicht auf eine einzige Person zu konzentrieren, weiss ich nicht mehr. Ich kann mich nur noch an das zufriedene hoffnungsvolle Gefühl erinnern, welches dabei ausgelöst wurde.
Ich wusste, ich musste mich langsam sputen und warf noch kurz einen Blick in eine Pfütze. Die öligen Striemen malten einen Regenbogen in mein Gesicht. Ich stutzte noch, weil ich meine Augen einen kurzen Moment nicht erkannte, aber dann doch braun wurden und mich anlachten. Ich lachte mit und rannte zum Schulhaus.
Ich öffnete und schloss leise die Klassentüre, die Stunde hatte bereits begonnen. Herr Vogel und ich hatten ein unausgesprochenes Abkommen vereinbart, welches mich zu spät kommen liess und er dafür ungestört die Stunde abhalten konnte. Dank meiner Geistesgegenwärtigkeit hatte ich einen Fensterplatz. Naja, nicht ganz. Ich musste durch das Schulzimmer aus dem Fenster blicken. Trotzdem hatte ich praktisch freie Sicht nach draussen. Naja, nicht ganz. Kathrin sass seit ein paar Wochen davor und so trafen sich hin und wieder unsere Blicke. Wie es sich gehörte, brach der eine oder andere schnell den Blickkontakt wieder ab. Meine Vermutung war, dass die Augäpfel sonst aus der Höhle traten und rausfielen. So vermied ich den Blick aus dem Fenster und damit eine Sauerei. Und zur allgemeinen Erleichterung meines Erwachsenenumfeldes kam ich doch noch zu ein paar Wochen Schulunterricht.
Dieser Morgen war aber anders. Kathrin schaute öfters zu mir, ich bemerkte es im Augenwinkel. Ihr Blick hatte etwas magisch anziehendes. Als wollte sie mit mir kommunizieren. Ich versuchte gleichzeitig meine Augen zu halten und zu ihr zu schauen. Irgendwas brachte sie in diesem Moment zum Lachen, ihr Mund öffnete sich, ich glaubte, sie wollte etwas sagen.
Es wäre vermessen zu behaupten, ich sei ein Spezialist in Lippen lesen, trotzdem sollte der Mangel eines Zertifikates niemanden davon abhalten etwas zu tun, insbesondere, wenn es wichtig ist. Ich las demzufolge ein "Schau weg" und kam ihrer Bitte unverzüglich nach. Dadurch verpasste ich ein kräftiges Paar Stirnrunzeln und vernahm als Echo unserer stummen Unterhaltung ein Klatschen. In der Hoffnung einer bravourösen Geste schaute ich nochmals zurück, sah aber nur noch ihre flache Hand von der Stirn verschwinden.
"Kathrin, alles in Ordnung?" fragte Herr Vogel und sie gab leicht zerknirscht zur Antwort, dass alles bestens sei.
In der Pause lag ich auf dem Rand eines Brunnens und führte eine Feldstudie an Wolkenformen durch. Manchmal leistete mir Thomas Gesellschaft, was teils zu absurden Unterhaltungen führte. So sah ich ein hüpfendes Kaninchen, welches die Pfote in einen Karottentopf legte und Thomas eine Stratocumulus. Als er das erste Mal die verschiedenen Cumulus erwähnte, schaute ich mich nach einem grossen M um, realisierte aber bald, dass er die Gattung der Wolke meinte. Thomas' praktische Art führte einen Regenschirm mit, wenn sich eine Nimbostratus näherte. Ich persönlich bestaunte das Wunder, wie praktisch sich die Natur doch eingerichtet hatte. Thomas war aber heute nicht da und so hingen meine Gedanken alleine in der Luft.
Ein Schatten ragte plötzlich über meinem Gesicht empor und meine blitzschnellen Reflexe liessen mich in Deckung gehen. Ich fiel in den Brunnen. Glücklicherweise war der Schulabwart davon überzeugt, dass weniger Arbeit bessere Arbeit wäre und ein Brunnen ohne Wasser, trotzdem ein Brunnen war, aber zusätzlich die Fantasie der Kinder anregen könne, in dem sie sich das Wasser vorstellen müssten. Sozusagen eine Win-Win-Situation. Obwohl ich nicht immer mit dem Abwart einer Meinung war, beispielsweise nicht einig waren wir, was die Funktion des Schulhausdaches anging, so konnte ich mich der pragmatischen Ansicht über Brunnen in diesem Moment anschliessen.
Wahrscheinlich wollte Kathrin ein einfaches Hallo sagen, wurde aber durch meine herausragende Reaktion unterbrochen und sagte: "Was zum Teufel machst du da?"
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