Der Herr Stadtkommandant geruhte nicht seine Absichten mitzuteilen, so dass sich Garnison und Volk in fruchtlosen Vermutungen ergingen und die Hoffnung aufkeimte, dass Kaiser und Sultan sich auf einen späten Frieden geeinigt hätten. Diese Spekulationen fanden ein jähes Ende, als in der Nacht zum 23. Juli drei Regimenter gegen die Türken ausfielen. Es zeigte sich, dass der Angriff verraten und der Feind wohl vorbereitet war. Wegen der hohen Verluste traf Graf Starhemberg Anweisung, nur mehr bei der höchsten Dringlichkeit gegen den Feind auszufallen.
Dann kam der 24. Juli, der Tag, an dem die zwei ungarischen Brandstifter auf dem Hohen Markt unter begeisterter Anteilnahme des Volkes hingerichtet worden waren. Die stundenlange Quälerei war dem Verfasser eine ganze Seite wert.
Als nun die beiden Schurken von Pferden auf den Richtplatz geschliffen, drückten ihnen die Henkersknechte in herzlicher Begrüßung die glühenden Eisen ins Fleisch. Der Anonymus hatte die Hinrichtung zunächst mit Befriedigung verfolgt, dann waren ihm Bedenken gekommen. "Als die Brandstifter nun mit gebrochenen Gliedern auf dem Rad lagen, schien manchen der Zuseher die Strafe genug. Sie verließen die Richtstätte, bevor sie dem Feuer übergeben wurden .
Der Schreiber hatte den letzten Akt der Hinrichtung nicht mitansehen wollen. Was sagte das aus? Gar nichts. Viele waren nicht bis zum Ende geblieben.
25. Juli. Vormittags ließen die Türken im südwestlichen Verteidigungsabschnitt drei Minen springen, die unterschiedlich große Schäden an den Palisaden anrichteten. Am Nachmittag wurde Obrist Wachtmeister Breitenbrunn noch zur rechten Zeit aus einem eingestürzten Stollen gezogen. Kommandant Starhemberg mahnte den verantwortlichen Oberingenieur Rimpler, beim Pölzen der Stollen nicht Holz zu sparen. Doch woran es in Wahrheit mangelte, waren im Stollengraben und Zimmern erfahrene Bergleute.
Das klang so, als ob der Autor sich in unmittelbarer Nähe aufgehalten hatte.
Vor Tagesanbruch zündeten die türkischen Maulwürfe am Schottenglacis eine gewaltige Mine, die viel Erdreich in den Graben warf und an den Mauern Schaden anrichtete. Bevor noch der Schlag der Detonation verhallt war, rutschten hunderte Janitscharen, die auf Lauer gelegen waren,
über die entstandene Rampe in den Graben, aus dem sie nach dreistündigem Kampf unter Zurücklassung vieler Toter und Verletzten wieder vertrieben wurden. In diesem blutigen Gefecht zeichneten sich die Obristen Mannsdorf, Beck und Kuttulinsky aus. Der Leutnant der Nachtwache sollte nun vor ein Kriegsgericht gestellt werden, doch gewährte der Stadtkommandant ihm die Gnade, seine Ehre mit einem Ausfall retten zu dürfen. Um den Leutnant sammelten sich dreißig Freiwillige, die ihm sogleich in das Labyrinth der türkischen Gräben folgten.
Bei der Kommandeursbesprechung wurde eine neue Einteilung der Infanterie in sechzehn Bataillone bekanntgeben, die sich in Gefechtsdienst, Bereitschaft und Freiwache alle zwölf Stunden ablösen sollen. Der Mannschaftsstand betrug an diesem Tag 7200 Soldaten zu Fuß und 560 zu Pferd.
Breitenbrunn war bei dieser Kommandeursbesprechung gewesen. Die Angaben stimmten. Der Schreiberling berichtete nun ausführlicher und facettenreicher als zu Beginn. Zum achtundzwanzigsten Juli schrieb er:
Wie an den vorangegangenen Tagen schossen die Jäger des Grafen Kielmannsegg gar treffsicher mit ihren langen Flinten aus den Fenstern der kaiserlichen Burg. Für die Türken, die keine Gewehre mit gedrehten Läufen kennen, war es ein Rätsel, dass die Kugeln bevorzugt ihre Paschas und Offiziere aus dem Wege räumten. Da Graf Kielmannsegg ein Wettschießen verordnet hatte, gab es Preise für die besten Schützen.
Die Kutsche hielt, weil es dem Sekretär im Bauch krampfte. Breitenbrunn stieg ebenfalls aus, um sich an der frischen Luft die Beine zu vertreten. Im Geröll des Donauufers sah er Steine, die sich zum Blatteln eigneten. Sorgfältig suchte er drei aus. Der erste Wurf geriet zu steil, der zweite zu flach, beim dritten hüpfte der Stein lustig übers gewellte Wasser. Der Leutnant der Leibwache gesellte sich zu ihm und glückliche fünf Minuten lang lief ein Wettbewerb, wessen Steine öfters abprallten, bevor sie im Wasser versanken. Breitenbrunn hatte eben mit dem Leutnant gleichzogen, als Markgraf Hermann mit voller Stimme "Ausgespielt, die Herren!" und "Allez, allez, allez, vous bonhommes joyeux!" rief. Breitenbrunn kam grinsend zum Wagen und Hermann wunderte sich nicht zum ersten Mal, welcher Kinderstube dieser ungehobelte Baron entwachsen war. Eine dementsprechend giftige Frage lag ihm bereits auf den Lippen, als ihn ein schwermütiger Gedanke durchfuhr. Sein Louis war auch von ungestümem, bisweilen taktlosem Benehmen gewesen, das durch Anfälle knabenhaften Charmes erträglich gemacht wurde. Nein, nicht bloß erträglich! Veredelt! Louis war bei aller Raubeinigkeit auch vornehm gewesen. Er hatte sich fein auszudrücken gewusst und den Damen Gedichte vorgetragen. Das tat Breitenbrunn sicher nicht und trotzdem spürte er eine Art geistiger Verwandtschaft zu seinem Neffen. Er würde ihn beim Kaiser protegieren so gut er konnte. "Nun, Breitenbrunn, ist Euch die Erleuchtung gekommen, wer das Diarium verfasst haben könnte?"
"Nein, Durchlaucht."
Er kam zum 13. August, dem Tag vor der Entsatzschlacht:
Um Mitternacht stiegen vom Kahlenberg weiße Raketen hoch, wie es vereinbart worden war, so dass wir einander in die Arme fielen und uns erstmals zu unserem Glück gratulierten durften. Kommandant Starhemberg ließ sogleich mit zwei weißen und drei roten Raketen als Zeichen höchster Not Antwort schießen. Eine Stunde vor der Dämmerung ist dann der Herr Breitenbrunn mit achthundert Musquetieren zu einem Ausfall über den Kanal in die Leopoldstadt gerudert. Weil es dunkel war und die Mission alle gebührliche Heimlichkeit verlangte, beobachtete nur die Defension auf den Wällen ihr Ablegen. Eine halbe Stunde später war vom Lager der Ägypter Schießen und Schreien zu hören, die auf die Biberbastei stiegen, sahen das ägyptische Lager in Flammen und die Janitscharen, die noch nicht erschlagen worden, in wilder Flucht davon stürzen. General Starhemberg gab nun Befehl, gegen die äußeren Donauinseln vorzurücken, wo sich das Heer Tökölys zur Überquerung des Flusses anschickte. Mit Trommeln und Gesang, beklatscht und bejubelt von den Zusehern, zogen die siegreichen Soldaten auf der Nordseite des Kanals zum Tabor. An diesem Morgen beglückwünschten sich viele Wiener zu ihrer baldigen Befreiung und die konsternierten Türken gaben zwei Stunden lang keinen einzigen Schuss ab. Trotz dieses schönen Erfolges kam es Mittags zum Streit zwischen dem Obristen Breitenbrunn und dem Kommandanten, der die Retirierung in die Stadt befohlen hatte, ein Befehl der sich im Nachhinein als unglücklich herausstellte, insofern die Ungarn ungestört übers Ufer setzten und den unglücklichen Ausgang der Schlacht entscheidend mitbestimmten.
Gottverflucht, sagte sich Breitenbrunn, der Mann hat mich gemocht und dann war ihm mit einem Mal klar, wer das Diarium geschrieben, oder besser gesagt, initiiert hatte, weil so gut Deutsch konnte Jovan Dimitrovic, der serbische Gaukler, der ihm aus dem eingestürzten Minenstollen gezogen und unter Kielmannsegg als Scharfschütze gedient hatte, nicht. Tränen der Rührung schossen ihm in die Augen. Der Jovan lebte!
Hermann, der seinem Sekretär diktierte, hatte den Gefühlssturm nicht bemerkt. Breitenbrunn las weiter und kam nach einer halben Stunde zum letzten Kapitel:
Am 24. August machte ein gefangener Janitschar auf der Folter die Aussage, dass der Großwesir den Generalsturm für den nächsten Morgen befohlen hatte. Und tatsächlich sahen wir die Türken den ganzen Tag mit Vorbereitungen beschäftigt. Der Herr Stadtkommandant hielt in herzlichen Worte eine Rede an die Verteidiger, in denen er ihnen für die gezeigte Tapferkeit dankte. Der Franziskaner, der täglich vor Tausenden am Platz bei den Michaelern die Apokalypse gepredigt hatte, sparte sich die düsteren Worte und versprach allen guten Christen der Stadt das Paradies. Auf Befehl des Herrn Grafen Starhemberg buken die Bäcker frisches Brot und die Wirte hielten ihre Gäste frei. Angeregt durch Suff und Völlerei gaben sich viele in Angesicht des nahen Untergangs den tollsten Ausschweifungen hin. Stündlich schwollen Lachen und Geschrei an, worüber sich die Türken in den Gräben wohl sehr gewundert. Nun soll der werte Leser nicht glauben, dass sich die Verteidiger willenlos ihrem Schicksal ergaben. Auf den Mauern zunächst und dann in den Gassen wurde verbissen bis in den Nachmittag gerungen und die meisten unserer Tapferen starben mit dem Schwert in der Hand, wohl wissend, dass kein Pardon gegeben würde. Eine kleine Gruppe Schützen schaffte es auf die Turmstube von St. Stefan. Sie verbarrikadierten den Aufgang und schossen durch die Fenster. Alle Versuche, sie aus ihrem Adlerhorst zu holen, scheiterten, bis am vierten oder fünften Tag das Schießen von selbst aufhörte. Als nun die Türken zur Wahrschau hinaufstiegen, fanden sie das Nest zu ihrem Ärger leer. Sie suchten in den Gassen und Häusern und ihre Gesichter wurden immer länger, bis sie schließlich aufgaben und behaupteten, dass der Zorn Allahs die Ungläubigen getroffen hatte. Unbeschreiblicher Zorn und Gram erfasste die Wiener, als an einem Freitagnachmittag ein muselmanischer Gebetsrufer von den Mauern der Kathedrale plärrte. Von diesem Tag an betrat der Sultan täglich das entweihte Gotteshaus, um dort zwei oder drei Stunden zu verweilen. Diese Gewohnheit geriet ihn zum Verhängnis. Eine Flintenkugel, abgefeuert aus einem zerstörten Haus an der Ecke zum ´Graben`, warf den heidnischen Tyrannen nieder, als er aus der Kathedrale kommend sein Pferd bestieg. Nun war der Jammer unter den Türken groß und die Schützen nutzten die entstandene Verwirrung, um den Häschern ein zweites Mal zu entkommen.
Читать дальше