Ich dränge mich mit dem Strom der eilenden Menschen auf die gerade festmachende Fähre, bevor die letzten Fahrgäste sie verlassen haben. Sie ist ein uralter Kahn, noch vollständig genietet, mit einer zentimeterdicken Rost- und Farbschicht bedeckt. Fast berührt das Wasser das schrägliegende Deck. Immer mehr Menschen drängen sich herein, Pendler, Verkäufer mit ihren Bauchläden, Schulkinder in ihren bunten Uniformen. Schon sind die Leinen los. Die Fähre zittert leicht und nimmt Kurs auf Europa. Ab und zu spritzt ein Schwall Gischt über das Boot, wenn die Bugwelle eines kreuzenden Schiffes uns trifft, und weht durch die offenen Fenster herein. Bald kann ich die Menschen am Anlegersteg erkennen, Fähren, Frachtkähne, Fischerboote, die ihren Fang entladen. Die Stadt muss hungrig sein. Wie ein gigantischer Ameisenhaufen erhebt sie sich beim Näherkommen vor mir. Und die Arbeitsameisen eilen herbei. Ich bin anscheinend die einzige Gastameise. Mal sehen, wie man diese empfangen wird…
„Sultan Ahmed chub!“, hatten die Fußballfans im Bus gesagt. Das heißt so viel wie ‚gut‘, hatte ich mir gemerkt, ‚güle güle‘ ‚guten Tag‘. ‚Tschai‘ heißt ‚Tee‘, ‚Ekmek‘ ‚Brot‘. Aber hier spricht ja fast jeder Deutsch. Sultan Ahmed ist der Name eines Stadtviertels und einer Moschee, auch die Blaue Moschee genannt. „Pudding Shop nix gut, Hippies!“, war der andere Rat, den sie mir gegeben hatten. Warum Hippie nix gut? Dachte ich mir. Für mich war Hippie ‚Love and Peace‘, eine Gegenkultur. Für Brüderlichkeit. Gegen die Spaltung Ost-West, gegen den Krieg, vor allem den in Vietnam, gegen den Kalten Krieg, die Überrüstung, vor allem gegen die Atomwaffen. „Ban The Bomb“ war eine der Parolen dieser Bewegung. Und das Peace-Zeichen war das Symbol. „Was bedeutet das eigentlich?“, hatte ich mal einen der Langhaardackel, wie die Leute im Dorf die Blumenkinder nannten, gefragt, der in seinen bunten Klamotten wie eine exotische Pflanze aus der grauen Münchener Loden-Mono-Kultur herausstach. Was auch mich damals etwas störte, war das oft bewusst schmuddelige Aussehen dieser Leute. „Das ist der Fußabdruck der Friedenstaube!“, bekam ich zur Antwort. Seitdem waren mir die Schmuddelkinder sympathisch. Denn die anderen liefen geschniegelt herum, mit kurzen Haaren, wie mein Bruder, und sangen: „Wer will nicht mit Gammlern verwechselt werden? Wir! Wer kämpft für den Frieden auf Erden? Wir!“
Frieden! Bei jeder Sternschnuppe, die vom Himmel fällt, spreche ich dieses Wort aus. Nach dem Krieg geboren, habe ich als Erbe die Angst vor Sirenen mitbekommen. Bei jedem tieffliegenden Düsenjäger schrecke ich zusammen. Den Frieden schaffen mit Waffen? Was für ein Quatsch! Frieden ersteht von selber, wenn es keine Waffen mehr gibt! Wenn man Andere achtet, nicht verachtet. Gerechtigkeit wird die Welt verändern, nicht Überlegenheit. Teilen, nicht Nehmen. Ich hatte den Kriegsdienst verweigert. Mein Bruder hatte ihn gemacht. Wir zwei repräsentieren zwei gegensätzliche Welten und leben doch auf derselben Erde!
Zwei große Ereignisse fanden Ender der 60-er statt: ‚Woodstock‘, das Hippie-Musik-Festival und ‚Hair‘, ein Hippie-Musical. Woodstock war in Amerika. Aber ‚Hair‘ kam nach München. Zwei Mal war ich ins Deutsche Theater gefahren, um es zu sehen. Zum einen fand ich die Musik und die Texte toll, ein Großteil davon wurde sogar zu Schlagern. ‚Let the sunshine‘ oder ‚Aquarius‘. Ich wollte die Philosophie dieser Bewegung kennen. „Seit du Hair gesehen hast, bist du anders geworden!“, merkte sogar meine Mutter, „du bist ein Hippie!“, sagte sie halb scherzend. Die Haare und der Bart wuchsen von selber, es reichte, sie nicht mehr zu schneiden. Das brachte viele Unannehmlichkeiten mit sich und ich erlebte die Diskriminierung, die Andersartigen entgegengebracht wird, hautnah. Manche Gaststätten verweigerten den Ausschank. Man wurde angespuckt. Dadurch sah ich, wie scheinheilig die Menschen waren, das ganze System. Wir probten im Kleinen den Aufstand. Lasen die Mao-Bibel: Nichts als Worte ohne Seele. Wir wollten die Weltrevolution. Doch die Farbe der Revolution ist das Blut. Also dann eher die Evolution! Aber wie? „Where do we go?“, ein anderes Lied aus Hair, wurde wie ein Credo für uns Suchende. Hatte Buddha nicht auf weltliche Ruhm verzichtet und alle hergebrachten Lehren abgelegt? Und trotzdem gefunden? Oder gerade deshalb? Namen wie Katmandu und Benares hatten eine magische Anziehungskraft bekommen. Oder war es unsere erstickende Seele, die uns diese einflüsterte?
Wo geh ich hin, folg ich den Wolken? Wo ist der Weg, den ich nicht seh‘?
Wer weiß die Antwort auf meine Frage, warum ich lebe und vergeh‘?
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