Sarah fand sich selbst auf einem Krankenlager wieder. Sie hatten ihr eine Beruhigungsspritze gegeben, weil sie hyperventilierte, fast hysterisch wurde.
War sie wahrlich dermaßen emotional? Sie kannte sich nicht in dieser Spielart, jedenfalls schon sehr lange nicht mehr. Ihr Kopf fühlte sich betäubt an, im Mund dominierte ein unangenehm süßlicher Geschmack. Sie lag auf einer rosa Wolke, einer trügerischen Wolke, von der sie wusste, dass sie jeden Moment in sich zusammenpappen konnte, wie Zuckerwatte, klebrig und süß, aber dennoch nichts als Luft. Da war diese Kühle, eine steinerne Kühle in ihr. Was war passiert? Die Erinnerung setzte aus, aber wahrscheinlich wollte sie das, nur nicht erinnert werden, nur nicht den Schmerz fühlen. Da war doch auch dieses andere Bild, dieses Entzücken und in der Kluft zwischen den unterschiedlichen Erfahrungsräumen befand sie sich, verhielt sich ruhig, unbeweglich, um weder in die eine noch in die andere Welt zu kippen. Sarah drückte die Hände fest an ihre Ohren, wie ein Kind, das verweigerte.
Sie hatten sich auf Evas Hülle gestürzt und alles gegeben, sie wieder zurück zu holen. Wiederbelebung in vielen Spielarten, alles was ihr medizinisches Wissen hergab. Sie fühlten sich schlecht, das konnte Sarah spüren, waren sie doch gefühlt ihrem Eid untreu gewesen. Sarah wusste bereits, dass es vorbei war, dass es so oder so geschehen wäre. Der Zeitpunkt war gekommen.
Als sie sich wehrte, gegen das, was da geschah, da machte etwas klick, etwas setzte aus. Sie verlor die Kontrolle. Nun lag sie hier, willentlich runtergefahren in Zeitlupentempo.
Ich will nach Hause.
Eva ist nicht mehr , alles kehrte wieder, der Gefühlsorkan. Sie raffte sich auf, und bewegte sich vorwärts. Nur raus, ein Taxi und in die Wohnung, weg vom Leben in dieser Welt.
.....
Zum fünften Mal versuchte sie nun den Schlüssel ins Schloss zu stecken, zitternd, hielt sie die rechte Hand mit der Linken, wie eine Betrunkene stützte sie sich ab. So gelang es ihr die Türe zu öffnen und als sie sie wieder hinter sich schloss, war ihre Erleichterung groß. Vertrautes kleines sicheres Sarahversum
Ruhe, Stille, lass die Welt zerbrechen. Dieses unbehagliche mulmige Gefühl ließ sie NICHT in Ruhe. Es war genau das, was man fühlte, wenn man sich in einer Zwischenwelt befand, wenn man weit jenseits der Komfortzone angelangt war. Das konnte nicht wahr sein, konnte einfach nicht wahr sein was hier passierte und doch war es das. In diesem Augenblick erreichte sie die Angst vor dem Nichts.
wie sie den tag verbrachte, wusste sie kaum. sie saß, starrte vor sich hin. es war Sarah bewusst, dass es viel zu tun gäbe, die beerdigung vorbereiten, die arbeit, so vieles, vieles, aber sie konnte nicht, ließ das telefon läuten, kümmerte sich nicht einmal um sich selbst, schob alles beiseite. weder essen, noch waschen, noch schlafen, noch sonst etwas interessierte sie. sie ließ gehen, alles, nichts von welt, das da noch wichtig schien. wenn sie wenigstens schlafen könnte, den süßen tiefen schlaf des vergessens. sie wusste nicht, ob sie gar nichts oder viel zu viel spürte, es war indifferent, es gab nichts mehr das ihr etwas bedeutete, das leben war mit eva gestorben, oder war sie selbst es, die gerade erst gestorben war und das noch nicht begriffen hatte? wer weiß. sarah rumorte, innen wie außen, gleich auch in eisiger erstarrung gefangen, ein zustand, der an die grenzen des menschenmöglichen geht, ein zustand, den schon viele durchgemacht hatten, kein einzelzustand, aber vereinzelnd. sie lief im kreis. der raum füllte sich mit schwärzestem dunkel, draußen, wie drinnen. sie lief, im kreis, rundum, rundum, alles drehte sich, kippte vornüber, das gesicht auf den boden, hatte sich was angeschlagen. die nase? war das blut? wenn schon. sie blieb liegen, schluchzte verhalten in den boden, krümmte sich. „warum, verdammt noch mal? bitte!!!! wann hat das ein ende, ich will´s nicht mehr, lass es nicht wahr sein. bitte, bitte gib mir meine kleine eva zurück. lass mich aufwachen, mein gott.“ völlig erschöpft von rumoren und toben fiel sie in einen erlösenden schlaf.
Die Kälte weckte sie nach einiger Zeit. Sie stolperte zur Couch, die Nase verkrustet, mit trockenem Blut wahrscheinlich, und kroch in die Pölster, zog die Wolldecke notdürftig über sich. Endlich konnte sie weinen, sie weinte wie ein kleines Mädchen. Sie weinte den ganzen Schmerz ihres Lebens, ihrer Seele, ihrer gescheiterten Beziehungen hinaus, sie weinte sich die unbändige Angst vom Leib, sie weinte sich von jedem Schmutzkörnchen in ihrem Unterbewusstsein los, ein nicht enden wollender Strom durchzogen mit Schnellen des Seufzens, Ächzens, mit Fällen der Wut, der tobenden Verzweiflung und schließlich mit sanften Sandbänken der Erlösung, der stillen, aber wunden Leere einer gereinigten Seelenlandschaft. Schlaf, nichts anderes mehr als betäubter, sehnsüchtig erhoffter, erschöpfter, aber dennoch stärkender Schlaf.
Es läutete an der Tür. Sturm. Sarah hob den Kopf, der tat weh. Es war Tag, früher Tag, das Licht noch sanft, flutete das Ostzimmer. Sie stand langsam, sachte auf und ging zur Tür. „Sarah, lass mich rein. Bitte.“ Sie öffnete die Haustüre mit Knopfdruck und schritt zurück, das Knarren des alten Parkettbodens - an immer derselben Stelle. Eine Erinnerung ihrer Realität. Sie ging ins Bad, das Spiegelbild blickte ihr abstoßend wie befriedigend entgegen. Sarah strich sachte über die trockene Blutspur, befühlte die Schwellungen an Nase und Lippe, die Augen waren verquollen, die Nase rot, alles verklebt vom Salz der Tränen und reinigenden Ausflüssen der Nase. Sie drehte das kalte Wasser auf und wusch sich ausgiebig. Die Kälte erfrischte, schon klopfte es mit der zaghaften Bestimmtheit ihrer Mutter an der Wohnungstür.
Susanne Engelmann, die Mutter, die Clanmutter, die Älteste seit Sophie Stankovic, deren Mutter, verstorben war.
Sie trat ein, etwas zögerlich, kam ganz in Schwarz gehüllt, wie es sich gehörte. Gefasst mit ihrer aufrechten Schönheit, aber mit einem neuen bitteren Zug um die Lippen. Es war hart ein Kind zu verlieren, auch wenn es schon erwachsen war. Susanne musste Haltung bewahren, um alle Schritte, die nach einem Sterben zu gehen waren, auch zu vollziehen. Es zuckte in ihrem rechten Mundwinkel, wieder diese unsicheren Bewegungen, das unstimmige Streichen über die Stirn, als wäre dort eine störende Haarsträhne, aber die Haare waren straff gebunden, erbarmungslos und perfekt an den Schläfen festgesteckt.
Erst nach der Beerdigung war es für sie an der Zeit zu weinen, wirklich zu fühlen. Sie berührte mit ihren Fingerspitzen die Wange der ältesten Tochter. Diese wandte sich ab, ertrug die Berührung kaum. Sie machte einen Schritt zur Seite. Sarah wusste, dass sie furchtbar aussah, aber es war ihr gleich. Sie hatte sie noch nie gebraucht, die Akzeptanz der anderen. Sie hatte ihren Weg gewählt und war ihn gegangen, was Eva und sie von den Eltern kopiert hatten. Die Familientradition der Andersgearteten, der Starken, die den Stürmen trotzten, die ihres Weges gingen. Eva schuf den Bruch, als Opfer ihrer Konsequenz. Sie offenbarte die blinden Flecken im Familienbuch.
Susanne setzte sich auf die Couch, aufrecht, faltete die Hände verspannt zusammen. Ihre Knöcheln zeigten Blässe. Sarahs verwahrloster Anblick war ihr unangenehm, das erkannte Sarah an der Art, wie sie sie anblickte, mehr an ihr vorbei, um ihr Bild nicht vollständig aufzunehmen. Sie suchte nach Worten, welche Worte wählte man in diesen Stunden, um nicht zu sehr die Verwundung anzutasten und gleichzeitig nicht kühl zu wirken. Den meisten Menschen fiel es schwer ihre Gefühle zu vermitteln.
„Wir müssen alles vorbereiten, für die Beerdigung, meine ich, kannst du mithelfen. David macht die Parte, wir müssen einen Sarg wählen.“
Wie konnte sie nur, wie war es ihr möglich, von all diesen Dingen auf diese abgespaltene Weise zu sprechen, als würde es sie nicht angehen.
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