Ich habe Zigaretten geklaut, ein ganzes Päckchen. ‚Wollen wir die ausprobieren?‘ Eva weiß nicht so recht. ‚Die riechen doch so scheußlich, das kann doch gar nicht gut sein.‘ ‚Aber den Erwachsenen schmeckt´s. Komm schon, allein macht´s keinen Spaß.‘ ‚Na gut, aber nur ein bisschen.‘ Ich nehme zwei aus der rot-weißen Schachtel. Reiche eine davon Eva und hole das Feuerzeug aus dem Blechkästchen mit den ganz besonderen Schätzen, entzünde damit umsichtig und ein wenig unbeholfen erst meine und dann Evas Zigarette. Lässig halten wir die Zigaretten, lehnen uns an den Baum und ziehen an. Beide fangen wir gleichzeitig zu husten an, einen Lungenzug haben wir gemacht – was das bedeutet habe ich allerdings erst später erfahren – das ist wirklich ekelhaft, mir wird speiübel, ich huste und finde das überhaupt nicht mehr toll. Eva gluckst seltsam, sie greift nach mir, ich sehe ihr ins Gesicht, o Gott, sie fuchtelt mit den Armen, ist ganz rot, kriegt keine Luft, panisch rüttle ich sie, schlag ihr auf den Rücken, ich weiß nicht was ich tun soll, Eva, nicht, atme wieder, ich pack sie bei der Hand, zerr sie den ganzen Abhang hinunter, sie stolpert widerlich röchelnd hinter mir her. Ich habe Angst, ich zerr sie weiter, bis zum Haus, Mama sieht aus dem Fenster, sie erkennt sofort, dass etwas nicht stimmt. Ich laufe weiter, Eva bricht zusammen, sie ist ganz blau, so ein Blau habe ich noch nie gesehen, ich zerre an ihr will sie weiterbringen, bin zu schwach, ich versuche sie zu tragen. Da kommt uns Mama entgegen, der Schock steht ihr ins Gesicht geschrieben, es ist ihr ein Leichtes Eva hochzuheben, sie macht etwas, was ich nicht verstehe, sie läuft zum Bach und steigt mit Eva hinein, taucht ihren Körper in dem eiskalten Wasser unter, was macht sie da, ich schreie, bitte, bitte, Eva nicht sterben, ich kreische, flehe, verzweifelt, ich bin schuld. Es wirkt, Eva atmet plötzlich wieder ein, ganz tief, und kreischt kurz, aber schrill auf, das fährt durch Mark und Bein. Mama riecht an Evas Mund, riecht den Zigarettenrauch, sie ist furios, so wütend habe ich sie noch nie gesehen, verzweifelt wütend, sie legt Eva nieder und kommt auf mich zu, sie schlägt mir ins Gesicht, ich hasse sie, ich habe es verdient. Eva lebt, Gott sei Dank, sie lebt, ich heule Rotz und Wasser, nie wieder werde ich so etwas machen. Evas Lunge ist schwach, von Geburt an, es ist eine zerbrechliche Brücke, die sie mit dem Leben und der Außenwelt verbindet, Asthma nennen Papa und Mama das, ich habe es vergessen. Mama trägt Eva ins Haus. Alles wird wieder gut.
Sarah war erstarrt. Sie musste ins Spital. Die Kollegen hatten gleich begriffen, dass etwas nicht stimmte. Sarah wirkte verwirrt. Ihr Gesicht gläsern. Die anderen sahen betreten, peinlich berührt halb zu, halb weg. Blickte das Ungewollte zur Tür herein, löste es Gefühle der Scham aus.
„Fahr nicht mit dem Auto, nimm dir ein Taxi!“ und schon hatte Rita, die Sekretärin, die Nummer gewählt. „In fünf Minuten vor dem Nebeneingang.“Ihr Stellvertreter Jürgen Bayer versprach ihr, die finale Produktion zu übernehmen. Sie wusste, auf ihn konnte sie sich verlassen. Sarah nahm ihre Jacke, die Handtasche und verließ die Redaktion.
Vor dem Eingang wurde ihr schwarz vor Augen. Sie lehnte sich kurz gegen die Wand, atmete tief, das Surren im Kopf ließ langsam nach. Die flirrenden Punkte formten wieder ein Bild. Das Taxi stand bereits vor der Tür. Der Fahrer sprang raus, hielt ihr die Türe auf und fragte mit arabischem Akzent und einem Lächeln nach dem Ziel. „Das Allgemeine Krankenhaus, bitte.“ Sarah registrierte alles minutiös. Sie war einem unwirklichen Zustand ausgesetzt. Das Irreale ein Tor zu etwas anderem. Das andere war nicht greifbar. Sie klammerte sich an kleine Dinge, an die Art wie der Taxilenker den Taxometer bediente, wie er das Lenkrad hielt, wie er leise vor sich hin summte und über den Rückspiegel bemerkte, dass dieser Fahrgast kein Gespräch wünschte, dass es hier um etwas Ernstes ging. Manche Menschen, die in seiner 15jährigen Laufbahn als Chauffeur in sein Auto gestiegen waren, suchten das Gespräch, sprudelten alles heraus. Andere wiederum, wie jene Frau, verkrochen sich in einen Winkel, wollten nicht angestoßen werden und hatten Angst, der Damm könne brechen und weil sie Angst davor hatten, sich zu zeigen, verschwanden sie lieber an einem dunklen lichtlosen Ort.
Es steckte immer etwas dahinter.
Er wusste das zu respektieren. Sie war ihm dankbar dafür, denn sie spürte in all ihrer Verwirrtheit die Rücksichtnahme der Menschlichkeit.
Die Reise an Evas Krankenbett war ihr endlos. Wie die Zeit dehnbar wurde, wenn sich das Unglück darin breit machte, als wären da ungreifbare Barrieren, unsichtbare Hände, die nach einem fassten, zogen und zerrten und zu sagen schienen: Du willst da nicht hin! Nein, das wollte sie wirklich nicht.
Der Verkehr der Stadt zäh, das AKH ein Labyrinth, monströs in seiner scheinbaren Undurchschaubarkeit. Der lange Krankenhausgang hin zu Evas Zimmer wollte kein Ende nehmen.
Als sie den Raum betrat, das Herz bis unter die Schädeldecke pochend, bemerkte sie zuallererst die Stille, irgendjemand flüsterte leise. Sie hatte Angst, vor dem was sein könnte. Sarah war immer für jegliche Art von Gefühlen empfindsam gewesen. An der sphärischen Zusammensetzung der Luft erkannte sie, welche Qualität an jedem Ort prägend war und damit das Geschehen bestimmte. Die Emanationen der Menschen erreichten sie ohne Filter. Ein Grund, warum sie es aufgegeben hatte, auf große Konzerte zu gehen oder mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu fahren.
Warum gab es in diesem Zimmer keine Hektik und keine Ärzte, die um ein Leben kämpften? Wie konnte hier schon diese Stille des Todes eingekehrt sein? Sie erkannte das mit einer Deutlichkeit wie selten und begriff es nicht. Es war nicht das erste Mal, dass ihr der Tod begegnete. Sie erlebte jenen ihrer geliebten Minna hautnah, aber sie war mit ihren damals siebzehn Jahren noch zu jung, um die Tragweite des Erlebnisses wirklich zu erfassen. Das Leben ihrer Großmutter war ein erfülltes gewesen und obwohl sie jene in den Zeiten nach ihrem Tod schrecklich vermisste, wusste Hannah instinktiv, dass Minna Sophie glücklich war, dass sie ihren Mann wiederhatte, und dass ihre Lebensreise vollendet war. Aber dies hier blieb ihr sinnlos. Sie wollte hinauslaufen, nach einer Schwester, einem Arzt rufen, aber etwas hielt sie zurück, war es die Kraft ihrer großen kleinen Eva? Es schnürte sie ein. Eva möglicherweise jetzt schon zu verlieren entbehrte jeglicher Logik, und dass das alle Anwesenden offenbar akzeptierten stieß sie sauer auf.
Verhalten bewegte sich Sarah auf das Bett zu, da saßen der Vater, die Mutter, David und Evas Freund Lars, der sich über Eva beugte. David nahm kurz ihre Hand, drückte sie, sandte ihr dieses bittere Augenlächeln. Sie flüstert ihm zu: „Was ist hier los? Warum sind hier keine Ärzte, die alles daransetzen, dass Eva gesund wird. Da stimmt doch was nicht.“ „Eva hat darauf bestanden, dass jetzt Ruhe ist, vor einer Stunde. Davor war hier die Hölle los und alles wurde getan was möglich war.“ „Wie geht das? Ich verstehe es nicht. Wir können doch dagegen an, wegen ihrer Drogensache. Man kann sie doch nicht einfach liegen lassen, zulassen, dass das geschieht.“ David sah sie traurig wie bestimmt an. „Wie kannst du deiner Schwester in den Rücken fallen. Du weißt, wie sie ist und du weißt, wenn sie so etwas sagt, dann meint sie es auch. Und sie war gnadenlos präsent, als sie darüber entschieden hat, dass sie ihren Frieden haben will.“ Da wurde es still in Sarah und sie wusste, erinnerte sich wieder, trat aus ihrer Enge heraus: Ja, Eva hatte ihre eigene Realität.
An diesem Ort zeigten sich die Gesetze von Zeit und Raum aufgehoben. Auf dem Bett lag ein durchscheinend blass-dürres Geschöpf, das nur im entferntesten Sarahs quirlig leuchtender Erinnerung von Eva ähnelte, und doch ist sie es, die Kleine , die sie immer zu behüten wünschte, weil sie so zart war, aber von solcher Präsenz und inneren Stärke, dass ihr das nicht immer gelang, weil die Kleine das gar nicht unbedingt wollte.
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