Endlich durfte er die vielen bunten Luftschlangen und lustig daher dümpelnden Luftballons genauer unter die Lupe nehmen. Mit Zähnen und Krallen und Zunge und Nase untersuchte er die vielen merkwürdig glitzernden und raschelnden Geburtstagsdekorationen, die wir beim Aufräumen aus lauter müder Faulheit haben nachlässig liegenlassen.
Und dann wurde er auf einen rot und leuchtend schimmernden Gegenstand aufmerksam.
Er hatte wohl ganz hoch oben in unserem Kastanienbaum ein interessantes unbekanntes Spielzeug entdeckt, dass seine ureigene Katzenneugierde mobilisierte.
Dort hing nämlich einer der mit Helium gefüllten Luftballons fest, die wir abends zum Geburtstagsabschluss hatten in den sommerlichen Sonnenuntergang steigen lassen.
Einer von diesen glitzernden Partyballons aus Aluminiumfolie, die in allen möglichen Tier- und Comicformen angeboten werden und gern auch auf einer Kirmes für teures Geld verkauft werden. Die schlappe glitzernde Folie hätte ja für den Kater auch was sein können?
Ein fliegender Fisch vielleicht, der sich in unsere Bergische Wohnsiedlung verirrt hat?
Jedenfalls kletterte Mikesch über die Äste in den etwa zwölf Meter hohen Baumwipfel, um sich die begehrte Beute zu sichern. Mikesch war damals noch ein richtiger kleiner Draufgänger, voller jugendlichem Leichtsinn, unfassbar neugierig und extrem unternehmungsfreudig.
Was er selbst aber noch nicht wußte:
Mikesch leidet unter Höhenangst.
Da hing er nun in dem Baum fest und kam allein nicht mehr runter. Er maunzte kläglich.
Johnny hörte es in seinem Zimmer zuerst. Er kletterte nun ebenfalls in den Baum. Über das Geländer des Balkons, über die Regenrinne, über das Garagendach, hinauf in die glücklicherweise recht stabilen Äste des alten Kastanienbaums.
Nun hing er dort ebenfalls fest, als der Mut ihn angesichts der er erklommenen Höhe verließ.
Traute sich nicht weiter.
Kam nicht an Mikesch heran.
Mikesch bekam Angst und floh weiter hinauf in den Baumwipfel. Johnny hockte in zehn Meter Höhe und hörte unter und neben sich die Äste knacken.
Schließlich wiegt auch ein schmalbrüstiger dreizehnjähriger Lulatsch mit viel zu langen Armen und Beinen deutlich mehr als ein dickliches Fellknäuel mit kugelrundem Thunfisch-Bauch.
„Hilfe, was für ein Trouble“, mag Johnny sicher da oben im Baum mit schlotternden Beinen gedacht haben. Traute sich aber nicht, um Hilfe zu rufen.
Das wäre ja total uncool gewesen.
Drohende Schimpfe obendrein.
Er harrte also aus.
Er erzählte später auf dem Weg ins Bett, als die Kletterkatastrophe endlich überstanden war, dass es nach seiner Handyuhr wohl fast zwei Stunden gewesen sein müssen, in denen Kater Mikesch und Junge gemeinsam starr vor Angst auf der Kastanie verharrt hatten ohne eine Ahnung, wie sie denn nun heil und unbemerkt von diesem verflixt hohen Baum wieder herunter kommen sollten.
Erst als der laue Nachtwind Mikeschs immer eindringlicheres Katzenjammern in unsere Richtung trug und es die Schallplattenmusik zu übertönen vermochte, verspürten Henrik und ich überhaupt erstmals die Neugierde, im Garten mal vorsichtig nach dem Rechten zu sehen und zu prüfen, warum da draußen so jämmerlich herum-miaut wurde.
Die Kids von heute ticken einfach anders.
Johnny rief tatsächlich stundenlang deshalb nicht um Hilfe, weil er keinen Bock auf unsere nervigen Vorhaltungen hatte.Und sich keine Schwächen eingestehen wollte. Und vor seinen Kumpels nicht als Weichei dastehen wollte.
Viel später, als ich bei ganz anderen Gegebenheiten irgendwelche Fotos auf Johnnys Mobilspielzeug abspeichern sollte, da viel mir eine regelrechte Fotodokumentation aus völlig schiefen Selfies in die Finger:
Mit Kater Mikesch auf dem Baum.
Nur die Füße in den Ästen.
Wie sich die Finger in die Zweige krallten.
Wie Mikesch mit gesträubtem Nackenfell auf
Pfotenspitzen über einen der schmalen Äste balancierte. Wie Mikesch in völlig ergebener Opferhaltung quer über einem der Stämme kauerte und die Vorderpfoten in die Tiefe baumeln ließ.
Mit Luftballonfetzen und mit gespreizten Fingern vor einer verzogenen Clownsmimik.
Mit Mond und mystischen Astwerkschatten im Nacken.
Hallo? Geht’s noch?
In solchen Momenten ist dann nicht Mikesch sondern Henrik der Cäsar in der Familie Hesselbach.
Der dann auf seine Weise kam, sah und siegte.
Er ist eben der coolste von uns allen.
Die doppelte Dachleiter stand schon am Baum, als ich noch panisch auf einem Bein herumhüpfte und immer wieder rief: „Johnny, bleib ganz ruhig. Keine Angst, wir holen dich da runter.“ „Und was ist mit meinem Mikesch?“ „Den holen wir auch runter.“
„Wir?“ meinte Henrik nur, als er die Leiter hinaufkraxelte und ich von unten zur Vorsicht mahnte, die Hände raufte, die Haare raufte und vor Sorge bald ins Höschen machte.
Henrik kam sechs Meter weit.
Dann war die Leiter zu Ende.
Der Stamm zu dünn.
Die Äste für einen ausgewachsenen Einmeterachtzig-Mann zu schwach.
„Tja, Katja. Du wiegst die Hälfte von mir. Traust Du dich in den Baum?“
Ich?
Wo mir doch schon schwindelig wird, wenn ich auf einen Stuhl steige, um die Glühbirnen in der Lampe auszutauschen.
Gut, die Erfindung des Handys hat auch nützliche Seiten. Man kann telefonieren.
Ich wählte nun konsequent einfach die 112.
Wozu gibt es die Feuerwehr mit einem Leiterwagen. Und wozu arbeite ich als Teilzeit-Lokaljournalistin in einem Dorf, wo jeder jeden kennt und ich mit jeder Schlüsselfigur unserer kleinen weltfremden Kommune auch schon ein Interview geführt habe? Auch mit Heiner Brennling, unserem pressefreudigen Oberbrandmeister der Freiwilligen Feuerwehr. Der hatte nämlich vor einigen Jahren einen Ehrenpreis für die wagemutige Rettung eines Meerschweinchens aus dem Stadtteich bekommen.
Es war damals Winter. Das Meerschweinchen gehörte der kleinen Tochter unseres Bürgermeisters.
Der spendete daraufhin einen neuen Spritzenwagen für die roten Hilfsengel unserer Gemeinde.
„Hallo Herr Brennling. Hier Katja Hesselbach.
Sie müssen sofort in den Weidenweg 3 kommen. Hier sitzen Johnny und Mikesch im Baum. Und Henrik hängt in der Obstleiter. Aber nicht mehr lange. Sehen alle drei schon ziemlich erschöpft aus!“
Wieso wohnen wir eigentlich in dem Weidenweg, wenn hier am Straßenrand so viele Kastanien stehen?
Herr Brennling war am Telefon sehr mürrisch.
Er hatte schon fest geschlafen.
Aber als Ehrenbürger unserer Stadt fühlte er die nötige Verantwortung in sich aufwallen und er kam dann auch tatsächlich innerhalb von zehn Minuten zu unserer Katastrophenstelle. Und mit ihm noch zwanzig weitere Feuerwehrleute mit Leiterwagen, Einsatzwagen, Spritzenwagen und Rettungswagen. Die Straße blinkte nur so im Blaulichtgewitter der vielen rot leuchtenden Feuerwehrfahrzeuge.
Johnny stand zum ersten Mal in dem kleinen Drahtkorb am äußeren Kopfende der ausfahrbaren Feuerwehrleiter. Kam es mir so vor, oder strahlte der Junge tatsächlich belustigte von einer Backe zur anderen?
„Na, der Kleine hat anscheinend auch noch seinen Spaß!“, bestätigte mir der Feuerwehrkollege aus den Kastanienästen.
„Ich glaube, wir haben für Ihren Sohn hier gerade eine hübsche Stuntshow initiiert.“
Tatsächlich bettelte Johnny beim Herunterfahren der Leiter aus seinem Krähennest hoch oben über den Dächern. „Bitte, bitte, darf ich noch eine Runde fahren? Das ist supergeil hier oben!“
Herr Brennling warf Henrik und mir einen Blick zu, der nur schwer zu deuten war, aber irgendwie so in die Richtung ging wie: „Für diese Zirkusnummer lasse ich euch büßen. Das wird so richtig teuer für euch Spaßvögel!“
Das Abenteuer Feuerwehr hatte für Johnny nur für diesen Abend ein vorübergehendes Ende.
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