Johnny fand natürlich die kleinen Schildkröten putzig, die dort am See in Plastikboxen aufgezogen wurden und die von den Kindern in die Hand genommen werden durften. Da das Wetter nicht für Badefreuden geschaffen schien, war auf dem See nichts los. Die Bootsvermieter hatten sich einen freien Tag gegönnt. Für die Libellen war es noch zu früh im Jahr, und Schlangen fanden wir auch nicht.
Was nun.
Johnny hatte Langeweile und wurde quengelig. Nichts ist im Urlaub nerventötender als ein permanent wimmerndes Kind, das ständig wiederholt: „Doof hier. Ich will nach Hause.“ Wir konnten uns ja schlecht stundenlang in die Taverne setzen, dem Kind mit Gyros und Schokolade den Mund zustopfen und hunderte Mal mit dem kleinen Bummelzug hin- und herfahren.
„Dann gehen wir eben einmal rund um den See, schauen, ob wir doch noch bunte Schlangen und schöne wilde Schildkröten finden und essen hier zum Abschluss noch ein Eis, wenn wir ausgehungert von der Wanderung kommen“, schlug Henrik fröhlich vor.
„Au ja, Schlangen und ein Eis“, nickte Johnny begeistert.
Ein bisschen skeptisch betrachtete ich unser Strand-Outfit. „Sind wir für eine Wanderung rund um den See denn richtig ausgerüstet?“, wagte ich anzumerken.
„Klar, ist doch nur ein Spaziergang – nur flaches Gelände am Ufer“, meinte unser Wanderführer Henrik.
Also marschierten wir los.
Frau Hesselbach in modischen Ledersandalen und Minirock, mit passender Handtasche.
Junior und Senior Hesselbach in abgeschnittenen Jeans und Trekkingsandalen.
Nach einer halben Stunde endete der Spazierweg in einem verlassenen Dorf. „Rundgang um den See? Trekking around the see?“ fragten wir den einzigen Menschen, der uns in dem Dorf über den Weg lief. „No, oxi“, antwortete der gute Mann, und wir verstanden.
Nein, es gäbe von hier aus keinen Wanderweg
Egal ob zu Fuß, mit Auto oder Motorrad, in der Stadt oder in den Bergen: Henrik hasst nichts mehr, als wenn er den gleichen Weg zweimal zurücklegen soll. Schon immer machte die Familie bei ihren Ausflügen teils stundenlange Riesenumwege, nur um irgendwie einen Alternativweg zu finden, der uns letztlich wieder zu unserem Ausgangspunkt zurückbrachte – auch wenn wir dafür durch Flüsse waten und auf privaten Firmengeländen einbrechen mussten.
Am Kournas See war es das gleiche Spiel.
Wanderweg zu Ende – Den gleichen Weg zurückgehen – das ging nach Henriks Meinung ja mal gar nicht.
Okay, dann eben querfeldein, immer schön am Ufer lang rund um den See.
Henrik marschierte vorne weg, seine kleine Hesselbach-Herde hinterher.
Es kamen zerklüftete Felsen, die uns den Weg versperrten.
Gut, dann eben alle Mann – und Frau - über die Felsen rüber. Die Felsen waren glitschig und rissig und überall wucherte Wurzelwerk der zornigen Dornenbüsche, mit denen die Felsen üppig bewachsen waren. Tja, da waren die hübschen zarten Ledersandalen im Handumdrehen ruiniert. Das Dornengestrüpp verhakte sich in unseren Klamotten und riss uns die Haut auf.
Egal, blieb die Handtasche eben darin hängen. Träger gerissen, Knoten gemacht.
Johnny kam mit seinen kurzen Beinen nicht von einem Fels auf den nächsten.
Dann wird er von Papa eben ein Stück getragen. Mutter wurde leider nicht getragen und betete, dass für sie die Kletterpartie nicht mit einem ungeplanten Kopfsprung in das azurblaue Seewasser endete.
Wir kletterten und krackselten durch kretische Wildnis und irgendwann standen wir auf einer Klippe, gute zehn Meter oberhalb des Sees.
Nur nicht in die Tiefe schauen. Und vergessen, dass Muttern ja eigentlich von Höhenängsten geplagt wird. Nur nicht daran denken, wie die Jungs aussähen, wenn beide mit ihren Sandalen bei dieser wüsten Kletterpartie an einer der spitzen Felsnasen abrutschten und in den See stürzen würden. Gäbe es hier überhaupt Handyempfang, um einen Rettungsdienst anzufunken?
Nach diesem survival trip damals rund um den Kournas See war ich jahrelang nicht mehr wieder dorthin gekommen.
Heute weiß ich, dass es sehr wohl einen Wanderweg gibt, mit dem man den herrlichen tiefen See umrunden kann. Aber wir haben ihn damals einfach verfehlt.
Für die von Henrik gewählte „Abkürzung“ wäre damals eine Bergsteigerausrüstung, eine Machete und ein Neoprenanzug ein durchaus angemessenes Equipment gewesen.
Endlich hatten wir die Felsen gemeistert. Wir waren mit halbwegs heilen Knochen wieder auf jenem ausgetretenen Wanderweg angekommen, dem wir eigentlich vor Stunden schon hätten folgen sollen.
„Mama, was steht da auf dem Schild?“ fragte Johnny, als wir von unserem Trampelpfad auf den ausgebauten Sandweg abbogen.
„Och, das steht nur: Danger, do not pass!“ las Henrik gleichmütig vor. Der Pfeil zeigte in genau jene Richtung, aus der Familie Hesselbach gerade gekommen war.
Gefahr, kein Durchgang!
Beruhigend, diese Information am Ende unseres fast dreistündigen Gewaltmarsches zu bekommen.
Gelernt haben Henrik und Johnny aus diesem Erlebnis nichts.
Im Gegenteil.
So wie jeder Süchtige sich schon im Moment seines Rausches nach der nächsten Dosis seines glückselig machenden Kicks sehnt, so sehnten sich mein großer und mein kleiner Mann nach dem für sie unbeschreiblich berauschenden Moment, wieder einmal der armen sorgenvollen Mutter den Beweis geliefert zu haben: „Hey wir sind die Kings. Keiner ist so taff wie wir. Und überhaupt, Mama Du bist hier das Weichei in der Familie.“
Egal ob auf Rügen, im Erzgebirge, in den heimischen Hügeln oder in den Alpen.
Kein Ausflug ohne Panikattacke seitens Katja Hesselbach. Und jedes Warnschild wurde von den Hesselbachmännern wieder und wieder als persönliche Einladung zu einem kleinen Überlebensexperiment verstanden. Und immer und immer wieder hatten die beiden mehr Glück als Verstand, wenn sie kichernd und aufgedreht, verschwitzt, verstaubt und oftmals mit aufgeschürften Knien und zerrissenen Hosen, von ihren Männerausflügen heimkehrten.
Der Urlaub auf Kreta war längst keine zwei Wochen alt und der abenteuerliche Gewaltmarsch rund um den Kournas See im Nordwesten der wunderbar zerklüfteten Insellandschaft gerade wenige Tage her, da kam Henrik beim Frühstück in unserem Hotel mit etlichen Schichten verschiedener Reiseführer und Landkarten unter dem Arm an den Tisch, schob unsere griechischen Frucht- und Joghurtschälchen zur Seite und sein Kartenmaterial unter meine Nase.
„Schau, Liebes, ich habe uns ein paar Wandervorschläge für die Weißen Berge organisiert. Die Natur dort oben muss herrlich sein. Und jetzt haben wir doch mit den kretischen Felsen schon genügend Erfahrung!“, grinste mich mein Göttergemahl scheinheilig an.
Johnny, die kleine Milchnase, amüsierte sich unterdessen mit einer der unzähligen mageren Kretakätzchen, die eigentlich zu jeder Tageszeit und an jedem Ort zutraulich um die Tisch- und Menschenbeine herumschlichen, immer in der Hoffnung, von den wohlwollenden Touristen eine kleine Nascherei zugesteckt zu bekommen. Bei Johnny und mir funktionierte diese Taktik ausgesprochen erfolgreich. Johnny hockte also mit seiner Müslischüssel unter dem Tisch, statt sittsam auf seinem Stuhl, und fütterte mit Hingabe die kleine Katzensippschaft, die sich rund um Johnnys Frühstückskatzenbuffet angesammelt hatte.
Die meisten griechischen Katzen haben die Farbe des auf Kreta so seltenen Sandstrandes. Sie sind meistens nicht von so intensiver Farbe wie unsere nordeuropäischen Samtpfoten mit ihren schwarzen und weißen und getigerten und bunten Pelzen. Eine Kretakatze sieht irgendwie von Haus aus ein bisschen eingelaufen und verwaschen aus. So, als ob ihr drahtiger schmaler Körper von der heißen Sommersonne ausgedörrt und die Farben des Fells ausgeblichen worden wären.
Ich liebe Katzen.
Und ich beobachtete mit viel Mitgefühl die zarten Kretakätzchen, die uns ständig begleiteten. Sie sehen so niedlich und verspielt aus und dabei steckt in ihnen ein zäher Kämpfer mit gefährlichem Jagdinstinkt. Sie spielen neckisch mit ihren Samtpfoten und im nächsten Moment verpassen Sie Dir mit scharfer Kralle eine schmerzhafte Lektion, wenn Du nicht nach ihrer Nase tanzt.
Читать дальше