Der Erfolg sprach letzten Endes nämlich doch für uns. Johnny hatte plötzlich Spaß beim Schreiben. Er schrieb immer länger, immer ordentlicher und nach weniger als drei Monaten auch immer richtiger.
Das Schuljahr war noch nicht vorbei, da kannte Johnny den Unterschied zwischen einen scharfen und einem weichen „S“ und auch etliche andere Gemeinheiten der Deutschen Rechtschreibung. Dann war es gut.
In meinen Augen war Johnny nun für die neuen Sprachwissenschaften fit genug.
„Jetzt kann unsere Milchnase das Wort ‚Vokabel‘ richtig schreiben, jetzt kann Johnny auch Vokabeln lernen“, schloss ich unser selbstgeschaffenes Hesselbach-Rechtschreib-Programm ab.
Und jetzt kannte Johnny auch das englische Wort „thirteen“ und jetzt war Johnny ein Teenager.
Inzwischen reichten Omas Leckereien und die Einladung zum gemeinsamen Schwimmbadbesuch nicht mehr so ohne weiteres aus, um den pubertierenden Grünschnabel von der Notwendigkeit freiwilliger Hausaufgabenstunden zu überzeugen.
Johnnys 13. Geburtstag war für unsere kleine Familie wirklich etwas Besonderes.
Zum einen enthält er unsere magische Familien-Drei, die für uns Hesselbachs schon oft so viel Glück bedeutet hat, zum anderen ist die Dreizehn aber umgekehrt auch ein dringlicher Unglücksbote, dessen magische Unglücksaura unbedingt und mit aller Kraft vertrieben werden muss.
Ich gehe zum Beispiel am Freitag dem Dreizehnten gar nicht gern allein aus dem Haus. Ich bin überzeugt, dass schon allein der Gedanke, dass etwas Schreckliches passieren könnte, Grund genug dafür ist, dass das Schicksal mir tatsächlich etwas ganz Schreckliches zustoßen lässt.
Also möchte ich am liebsten den ganzen Tag die Bettdecke über meinen Kopf ziehen und dem Schicksal gar nicht erst über den Weg laufen. Aber wahrscheinlich würde ich dann unter der Decke schlimme Erstickungsanfälle bekommen oder ich verpasse die neuesten Sonderangebote in unserem Supermarkt um die Ecke. Man kann der Dreizehn eben einfach nicht entkommen.
Johnny feierte seine Teenager-Geburtstag und deshalb lauerte das Schicksal wahrscheinlich schon einen ganzen Tag lang gut versteckt hinter Ecken und Hecken, um dem Geburtstagskind einen Schrecken einjagen zu dürfen. Das Schicksal wählte sich Johnnys vierbeinigen Teenager-Bruder aus, um der Familie Hesselbach an jenem 21. Juli ein nachhaltig aufregendes Erlebnis zu bescheren.
Johnnys heimlicher Teenager-Bruder ist unser Kater Mikesch. Der wohlgenährte rotzfreche graue Tiger mit den blau-grünen Augen fühlte sich nun seit einem Jahr als viertes Familienmitglied bei Familie Hesselbach und hatte sich in die chaotischen Gepflogenheiten unseres Hausstandes bestens eingeordnet.
Morgens schläft er gerne lang.
Und erst das Klappern seines Keramik-Katzengeschirrs auf den Küchenfliesen überzeugt ihn davon, dass es Zeit zum Aufstehen wird.
Er spielt gern. Er spielt vor allem gern mit Mäusen. „Er ist eben kein Vegetarier. Darüber musstest Du Dir eigentlich schon im Klaren sein, als Du die Katze angeschleppt hast“, bemerkte Henrik. Tja, ich erwarte ja nicht, dass Mikesch sich von Möhren ernährt, aber er könnte seine Mäusesnacks gern heimlich und dezent vernaschen.
Ich hatte tatsächlich nicht erwartet, dass der dankbare kleine putzmuntere Kater sich für unsere Aufmerksamkeiten regelmäßig mit wohlgemeinten Geschenken bedanken will. Und zwar ganz nach Katzenart meistens in Form einer sorgfältig aufgebahrten Jagdbeute.
Mehrmals in der Woche stolperte ich auf der Terrasse über liebevoll ausgelegte Mäusekadaver.
Und nicht alle sahen so aus, als ob sie vor Schreck an einem Herzinfarkt gestorben sein könnten.
„Das ist ja wie beim Halali nach einer Fuchsjagd“, schimpfte ich unseren jungen Kater aus. Das schien ihn zusätzlich zu beflügeln.
Ab sofort lagen vor der Terrasse nicht nur tote Mäuse, sondern auch tote Tauben, tote Wiesel und tote Hamster.
„Wenn uns mal das Haushaltsgeld ausgehen sollte, brauchen wir uns jedenfalls keine Sorgen um unsere täglichen Fleischrationen zu machen. Gegrillte Taube ist doch eine Delikatesse“, kicherte Henrik.
Ich ekelte mich.
„Den Goldhamster hat Mikesch sicher nicht auf der Wiese gejagt“, wagte ich einen Einwand. „Stimmt, das ist kein Wald- und Wiesenhamster. Der hat bestimmt mal ein richtig nettes Zuhause mit kleinem Laufrad und Schmuseeinheiten gehabt.“
„Psst. Mikesch wird seinen mörderischen Akt nicht verraten und wir sollten das auch nicht. Wir wollen doch keine Krokodiltränen innerhalb der Gemeinde heraufbeschwören, oder?“
Als Katzenjunges war Mikesch ein süßer Fratz, der sich von seinen Zweibeinern gern beschmusen ließ.
Kaum hatte er mit etwa sechs Monaten sein hormongesteuertes Teenageralter vollends erreicht, war es mit der Schmuserei vorbei.
Er ist ausgesprochen eigensinnig.
Will ich ihn kraulen und er will grad so gar nicht, dann fährt der Machokater auch schon mal die Krallen aus.
Und zack: schon malen sich kleine blutige Striemchen auf dem Handrücken ab.
Umgekehrt funktioniert das komischerweise nicht. Will er schmusen und sucht bei mir menschliche Nähe, dann fordert er sie erbarmungslos wie ein kleines quengelndes Kind.
Habe ich gerade mal keine Lust und Zeit zum Schmusen, dann hängt er sich wie ein Katzensack an meine Jeans, an meinen Pullover und an besonders sportlichen Tagen sogar in meinen Nacken. Und wehe, wehe, ich sollte es wagen, ihn dann immer noch ignorieren. Zack: schon wieder ein kleines blutiges Striemchen auf dem Handrücken.
Mikesch ist ein Partylöwe und geht gern mal nachts auf die Rolle. Tagsüber schläft der große dicke Kater auf einem Kissen neben der Terrassentür. Das ist ein strategisch kluger Punkt, an dem er sämtliche Familienaktivitäten hervorragend im Blick hat.
Und vor allem seinen Fressnapf.
Nachts wird er munter und dann macht er die Nachbarschaft unsicher. Manchmal scheint er dabei auf genauso machomäßige Artgenossen zu treffen, wie er doch selber einer ist.
Ich erlebte unseren pelzigen Muskelprotz mit angebissenem Ohr und einem beängstigend tiefen Kratzer auf dem Rücken.
Zerschunden und dreckig und zerbissen schlich er sich morgens auf sein Schlafkissen und leckte seine vielen blutigen Wunden.
Mir tat der kleine Kerl leid.
Obwohl Mikesch für sein Alter und seine Art doch eigentlich sehr groß und mächtig geraten ist und von manch einem Nachbarn sogar schon für einen Waschbär gehalten wurde. „Der muss zum Tierarzt“, überzeugte mich Johnny. „Ja, der braucht eine Tetanusspritze“, bestätigte Mechthild.
Also packte ich das schwere mitleidserregende Fellbündel in seinen Transportkorb und fuhr zu Doktor Fleischer.
Gut, den Namen hat sich der Tierarzt nicht selbst ausgesucht. Aber immer wieder hoffen wir doch inständig, dass sein Name nicht sein Programm sein möge.
Doktor Fleischer kennt Mikesch seit Babyzeiten.
Schließlich fand ich das zerlumpte graue Fellknäuel als winziges Kitten im vergangenen Mai in einer dieser Gittermülleimer auf dem Friedhof.
Es war wieder einer dieser Tage, an denen ich mir die Nähe zu meiner Mutter wünschte.
Manchmal beschleicht mich dieses leere verwaiste Gefühl, als ob ich ohne ihre helfende Hand völlig verlassen und orientierungslos durch den Tag laufen würde.
Mama fehlt mir.
Das muss wohl auch so sein, wenn eine Tochter ihre Mutter beerdigt hat. Aber an manchen Tagen habe ich das ganz dringende Bedürfnis und ich muss einfach von Angesicht zu Angesicht mit Mama Gesa reden. Und das kann ich immer dann am besten, wenn ich mich mutterseelenallein vor den Baum an ihrem Grab setze und ich felsenfest davon überzeugt bin, dass sie als gestaltloser flimmernder Schutzengel in den Ästen schaukelt und mir ganz konzentriert zuhört, welche Sorgen und Gedanken ich in diesem Moment nur mit ihr allein teilen möchte.
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