Diesen Abend, nach dem Abendbrot, mussten wir unsere Wunschzettel für Weihnachten abgeben, es war der letzte Termin, wie uns von unserer Erzieherin gesagt wurde. Es reichte nicht, einfach nur zu schreiben: „Ich wünsche mir …“ Zu jedem Wunsch sollte ein Bild gemalt werden und es mussten mehrere Wünsche auf dem Zettel sein, sodass nach Möglichkeit einer erfüllt werden konnte.
Auf meinem Wunschzettel stand: „Ich wünsche mir einen Teddy oder einen Burattino.“ Dazu malte ich dann einen Teddy und eine Puppe mit einer langen Nase, die mir von einer Frau übergeben wird.
Immer hatte ich zu meinen Wunschzetteln eine Frau gemalt, aber nie hat es jemanden interessiert, wen sie darstellen soll. Nur diesen Abend fragte mich die Erzieherin, indem sie auf mein Bild zeigte: „Wer ist diese Person, Hans, bin ich das?“
„Nein, Frau Hansen, das ist meine Mutti“, antwortete ich.
Nachdem sie mir einen Klaps auf den Hinterkopf gegeben hatte, nahm sie meinen Wunschzettel und ging.
Am nächsten Morgen wurden wir nicht geweckt, wie es sonst üblich war. Es war schon recht hell draußen. Als ich aus dem Fenster schaute, traute ich meinen Augen nicht: Der Schnee reichte bis ans Fensterbrett unseres Schlafraums, bis in die erste Etage hoch.
Es musste die ganze Nacht durchgeschneit haben.
Sofort zog ich mich an und rannte, ohne mich zu waschen, zur Haustür. Beim Versuch, sie zu öffnen, war ich schmerzhaft gegen die Tür gerammt. Nachdem der Schmerz gewichen war, probierte ich es aber noch einmal, sie zu öffnen – es war nicht möglich.
Über Nacht hatte sich eine Schneewehe gebildet und den Hauseingang versperrt.
Ich lief daraufhin zurück in den Schlafraum und kletterte aus einem, noch halbwegs schneefreien, Fenster. Einige folgten mir und wir liefen zum Eingang und buddelten die Tür mit den Händen frei.
Als alles vollbracht war, rannten alle anderen auch hinaus, und wir schmissen uns in den Schnee, voller Übermut. Sofort ging auch eine Schneeballschlacht los, zuerst jeder gegen jeden und dann die Jungen gegen die Mädchen. Meine Hände und Füße waren schon eiskalt, und ich fror, aber es hat trotzdem Spaß gemacht, schon weil niemand da war, der uns maßregelte.
Schnee im Erzgebirge zu dieser Jahreszeit war nicht ungewöhnlich, um so ausgelassen zu sein. Ungewöhnlich war, dass wir praktisch vom Schnee eingeschlossen und auf uns allein gestellt waren.
Kein Erzieher in Sichtweite, absolute Stille. Wir hatten sozusagen sturmfreie Bude. Keiner, der meckerte oder uns tadelte für unseren Spaß. Wenn das kein Grund war, ausgelassen zu sein, dann weiß ich auch nicht.
Bei all der Freude dachte ich an meine Freundin Marianne, sie war auch gern ausgelassen und es hätte ihr auf jeden Fall gefallen, da war ich mir sicher. Sie wohnte aber in Haus 2, dort waren die Großen, wie wir sie nannten, untergebracht.
Auch die Küche und der Speisesaal waren in diesem Haus, also eigentlich der gesamte Wirtschaftstrakt.
Meine Freundin Marianne ging in die sechste Klasse und ich in die dritte. Mit ihr unternahm ich viel gemeinsam.
Wir hatten auch Mädchen in unserer Gruppe, aber eine Freundin zu haben, war nicht so toll und schon gar nicht in der eigenen Gruppe. Man wurde zum Außenseiter und keiner wollte was mit dir zu tun haben. Aber mit Marianne war das anders, sie war ja von der großen Gruppe.
Wir waren gemeinsam, unter anderem, im Nadelarbeiten- und Kochkurs. Dort lernte ich dann Häkeln, Stricken, Stopfen und, und, und.
Den Jungs habe ich davon nichts erzählt. Das wäre bestimmt eine riesige Lachnummer geworden – ein Junge in der Schneiderstube.
Manchmal hat mich einer in der Küche gesehen und fragte dann, was ich da mache. Ich sagte immer, „ich fresse mich durch“. Das war dann in Ordnung. In den Nähkurs hätte sich keiner verirrt, da war ich sicher.
In all der Freude, die wir an diesem Morgen hatten, hallte ein lautes, bestimmendes „Alles sammeln, Schnee-Einsatz am Bahnhof“.
Na klar, nicht vergessen, sondern verdrängt, denn es war jedes Jahr so: Mehrmals in der Wintersaison die Schienen und Gleise von Schnee und Eis befreien.
Nach dem Frühstück liefen wir dann zum Bahnhof, dort hatten wir schon einen eigenen Verschlag für Schippen und andere Werkzeuge.
Diesmal aber waren wir Heimkinder nicht allein am Bahnhof, sondern auch Soldaten, die dort mithalfen. Selbst die Züge waren in hohe Schneewehen verpackt. Der Schnee reichte fast bis an die Oberleitungen heran. Dort durften wir nicht hin, es sei zu gefährlich für uns, sagte Herr Holm.
Das Freischippen der Anlage war eine regelrechte Schufterei, aber irgendwie hatte es mir doch Spaß gemacht, mit den Soldaten zusammenzuarbeiten. Bis zum Mittag war das Werk vollbracht und wir wurden dann mit einem Armee-Lkw ins Heim zurückgefahren. Es war ein Heidenspaß. Bergauf, Richtung Heim, kamen wir nicht richtig weg und der Lkw rutschte hin und her. Herr Holm wurde quirlig und ordnete an „Festhalten, alle untereinander festhalten“.
Wir wussten gar nicht, was unser Erzieher hatte, wir fanden das Schlingern des Fahrzeugs toll.
Im Heim angekommen, sagte er uns, dass das da eben sehr gefährlich gewesen sei. Wir hätten vom Weg wegrutschen können, und der Lkw hätte umkippen können. „Was glaubt ihr, was passiert wäre, wenn wir den Abgrund runtergedonnert wären, samt Lkw?“ Herr Holm war immer noch sichtlich geschafft.
Nach dem Mittagessen, noch im Speisesaal, kam unser Heimleiter, Herr Michel. Er bedankte sich bei uns für die gute und schnelle Erledigung der Arbeiten auf dem Bahnhof. Wir bekamen ein dickes Lob von unserem Heimleiter und das Versprechen, dass wir alle vom Heim nach Dresden zum Stadtbummel eingeladen würden. Dann auf einmal wurde er ernst, er richtete sich auf, ich würde sagen, er stand stramm. Stolz, mit geschwollener Brust, verkündete er: „Soeben habe ich einen Anruf vom Kommandeur der hier in der Nähe stationierten NVA erhalten, die Soldaten waren von eurem Einsatz am Bahnhof beeindruckt, und ich soll euch allen einen persönlichen Dank aussprechen. Spontan haben die Soldaten Geld gespendet, sodass jeder von euch zwei Mark für den Bummel in Dresden erhält.“
Die Freude hielt sich nicht mehr in Grenzen. Ein Bummel durch Dresden und dann noch Taschengeld. Eigentlich bekamen wir eine Mark im Monat Taschengeld, aber davon wurden immer fünfzig Pfennig nach Algier gespendet. Dort sei Krieg und die bräuchten das Geld nötiger, so sagte man uns.
Unser Dresden-Ausflug war einfach zauberhaft. Herr Wolf, ein Erzieher, holte uns um 10 Uhr ab und wir bestiegen einen Bus. Meine Freundin Marianne saß gleich neben mir. Sie sorgte für einen Platz vorne beim Fahrer.
Sie hatte zwar nicht am Einsatz direkt teilgenommen, wie so einige andere Insassen aus ihrer Gruppe, aber sie hatte in der Küche gearbeitet und für unser Wohl gesorgt, also war sie indirekt doch beteiligt. „Den Tee“, so sagte sie liebevoll, „habe ich gemacht“. So kam es, dass einige Helfer von den Größeren mit dabei waren.
Die Überraschung war dann der Weihnachtsmarkt. Tausende Lichter und alles drehte sich! Und der Duft, der in der Luft lag, war zuckersüß.
Als Erstes bin ich mit Marianne zur Schießbude gegangen. Der Budenbesitzer wollte mir zunächst keinen Knicker geben, weil ich seiner Ansicht nach zu klein war. Erst als Marianne sich für mich einsetzte, gab er nach. Zehn Schuss hatte ich auf eine Zielscheibe abgegeben. Muss gar nicht so schlecht gewesen sein, denn der Budenbesitzer bot er mir eine Menge Sachen an.
Unter all dem Krempel, den er mir anbot, sah ich ein riesiges Schokoladenherz. Dieses Schokoladenherz war mit einer Kordel zum Umhängen versehen und auf dem Herz stand, mit rotem Zuckerguss geschrieben: „Ich liebe dich.“ Genau das war es, was ich wollte. Marianne war immer spontan, immer war ihr etwas Neues eingefallen, auch wenn ich einmal keine Lust hatte, und sie gewann immer – egal, worum es ging. Aber jetzt konnte ich ihr etwas schenken, was sie beeindruckte.
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