KARL UBL
Kaisertum
Das mittelalterliche Kaisertum war eine durch das kollektive Gedächtnis und durch selektive Erinnerung geprägte Institution. So verschieden das Wissen über das antike Kaisertum war, so verschieden fielen auch die Vorstellungen vom Kaisertum im Mittelalter aus. Ein auch nur annähernd einheitliches Konzept hat gefehlt. Besonders die Epochen der verstärkten Rezeption antiker Bildung (karolingische und ottonische „Renaissance“, „Renaissance des 12. Jahrhunderts“) gaben neue Anstöße zum Nachdenken über das Kaisertum. Man konnte das Amt des Kaisers in Anlehnung an seinen Ursprung unter Augustus als vorwiegend weltliches Herrscheramt charakterisieren; man konnte an das christliche Kaisertum der Spätantike anknüpfen oder mit Verweis auf die (nachträglich stilisierte) Buße Theodosius’ I. vor Ambrosius von Mailand seine Abhängigkeit von der Kirche herausstreichen. Ebenfalls möglich war der konkrete Bezug auf die stadtrömische Herkunft des Kaisertums oder die abstrakte Definition des Kaisers als ranghöchsten Herrschers über mehrere Völker. In diesem zuletzt genannten Sinne bezeichneten sich angelsächsische und spanische Herrscher des Früh- und Hochmittelalters als Kaiser in bezug auf die geographische Region. Eine Konkurrenz zum byzantinischen oder römisch-deutschen Kaisertum war damit nicht angestrebt.
Erneuerung.Bereits im Zuge der Erneuerung des westlichen Kaisertums durch Karl den Großen sind unterschiedliche Vorstellungen aufeinandergeprallt. Das Zeremoniell der Kaiserkrönung am Weihnachtstag 800 sah zuerst die Krönung durch den Papst am Grab des hl. Petrus (der sogenannten Confessio S. Petri) und danach die Akklamation des römischen Volkes vor. Karl, der das Procedere wohl kaum unfreiwillig über sich ergehen ließ, betrachtete im Unterschied zum Papst weder das eine noch das andere als konstitutiv für den neu erworbenen Rang. Seinem Sohn Ludwig dem Frommen setzte er im Jahr 813 eigenhändig die Krone auf das Haupt und machte ihn so zum Mitkaiser. Auch die Historiographen am Hof der Karolinger werteten die aktive Annahme des Kaisernamens durch Karl höher als die passive Krönungszeremonie. Am Hof war man sich einig, daß die historische Situation die selbständige Annahme des Kaisertitels durch Karl rechtfertigen würde. Denn im byzantinischen Reich herrschte mit Irene zum ersten Mal in der Geschichte eine Kaiserin [↗ Abendland und Byzanz] und im Westen lagen alle ehemaligen Hauptstädte des weströmischen Reichs in der Hand Karls des Großen. Die Macht des Frankenkönigs wurde als kaisergleich wahrgenommen. Trotz dieser historischen Situation bedurfte es zur Konkretisierung der Planungen für die Kaiserkrönung eines unmittelbaren Anlasses. Dieser war mit dem Attentat auf Papst Leo III. im Jahr 799 gegeben. Der gescheiterte Versuch, den Papst durch Verstümmelung amtsunfähig zu machen und aus seiner Stellung zu entfernen, rief die Frage nach der herrschaftlichen Zuordnung der Stadt und des Dukats Rom hervor. Im Verlauf des 8. Jahrhunderts hatte sich der Papst der byzantinischen Oberherrschaft entzogen und – mit der echten Pippinischen und der gefälschten Konstantinischen Schenkung im Rücken – eigene Ansprüche auf Souveränität erhoben. Nach der Kaiserkrönung in der Petersbasilika reklamierte Karl die Herrschaft über Rom für sich und übernahm die Aburteilung der Attentäter (801). Der Status von Rom blieb in den folgenden Jahrzehnten umstritten und erfuhr teilweise voneinander abweichende Regelungen. Um so wichtiger war es für das Papsttum, die Verleihung der Kaiserwürde in die eigene Hand zu nehmen. Ludwig der Fromme wurde nach der Ernennung zum Mitkaiser durch die Initiative des Papstes ebenso erneut gekrönt (815) wie sein Sohn Lothar I. (826). Ludwig II., ein Urenkel Karls des Großen, empfing den Kaisertitel im Jahr 850 erstmals ausschließlich aus der Hand des Papstes. Seitdem wurde die Kaiserkrönung durch den Papst in der Peterskirche von Rom zur Norm im gesamten Mittelalter.
Im Gegensatz zur Kaiseridee Karls des Großen brachte das Kaisertum in den Jahren von 855 bis 924 keine hegemoniale Stellung zum Ausdruck, sondern war untrennbar mit der Königsherrschaft über Italien verbunden. Nach dem Aussterben der Karolinger in Italien bestimmte der Papst über das Kaisertum. Mit Karl dem Kahlen (875–877), Karl dem Dicken (881–887) und Arnulf von Kärnten (896–899) konnten jeweils nur kurzfristig Herrscher nördlich der Alpen für das Kaisertum gewonnen werden. Nach dem Tod Arnulfs blieb es in der Hand lokaler italienischer Potentaten. Mit Berengar I. († 924) nahm das Kaisertum ein vorläufiges Ende.
Nach dem Ende des Frankenreichs entstanden im 10. Jahrhundert unabhängige Königreiche im Westen (das spätere Frankreich), im Osten (das spätere Deutschland), in Burgund und in Italien. Auf die Erneuerung des Kaisertums schien nach 924 wenig hinzudeuten. Erst das zufällige Aufeinandertreffen verschiedener historischer Begebenheiten erweckte in Otto I. den Gedanken an die Annahme der Kaiserwürde. Erster Auslöser war der umstrittene Herrschaftswechsel zu Berengar II. in Italien (950). Dieser sorgte durch die engen verwandtschaftlichen Beziehungen der Königsfamilien sowie durch das politische Interesse der süddeutschen Herzöge auch im Reich nördlich der Alpen für Verwicklungen. Otto I. riß die Initiative an sich und zog im Jahr 951 nach Italien, um die Witwe des alten Königs Adelheid aus den Fängen des neuen Königs Berengar II. zu entreißen. Er nahm Adelheid zur Frau und setzte Verhandlungen mit dem Papst über eine Kaiserkrönung in Gang. Nach einem abschlägigen Bescheid zog sich Otto aus Italien zurück und übergab das italienische Königtum durch Belehnung an Berengar und dessen Sohn. Erst zehn Jahre später änderte sich die Lage, als Papst Johannes XII. aus Sorge vor dem Machtzuwachs Berengars bei Otto I. um Hilfe ansuchte und dafür die Kaiserkrönung in Aussicht stellte. Otto ergriff diese Gelegenheit um so bereitwilliger, als er durch seine Rangerhöhung die Chance gekommen sah, in Kooperation mit dem Papst sein Projekt der Errichtung eines Magdeburger Erzbistums gegen den Widerstand der betroffenen Bischöfe durchzusetzen. Beim Romzug wagte Berengar keinen offenen Kampf und Otto erreichte ungehindert Rom. Dort wurde er am 2. Februar 962 von Johannes XII. zum Kaiser gekrönt. Am folgenden Tag bestätigte Otto im sogenannten Pactum Ottonianum die Besitzrechte des Apostolischen Stuhls und bekannte sich zu seiner Rolle als Beschützer des Papsttums. Im Gegenzug sollte der Papst in Zukunft einen Treueid auf den Kaiser ablegen.
Mit der Krönung Ottos I. war die Grundlage für das mittelalterliche Kaisertum gelegt. Der Rombezug des Kaisertums festigte sich erst allmählich. Nach der Einnahme des byzantinischen Tarents (982) nannte sich Otto II. Romanorum imperator augustus. Dieser Titel wurde unter Heinrich II. üblich. Im späten 11. Jahrhundert setzte sich für den König der Titel Romanorum rex durch und zeitgenössische Historiker begannen die Reihe der Kaiser von Augustus bis in die Gegenwart durchzuzählen. Um 1100 faßte der Geschichtsschreiber Frutolf von Michelsberg diese Vorstellung einer bruchlosen Kontinuität in den Begriff der translatio imperii. Institutionell bildete das Kaisertum eine Klammer zwischen dem ostfränkisch-deutschen und dem italienischen Königtum, wurde aber nicht im Erbgang weitergegeben, sondern durch die Kaiserkrönung in St. Peter. Diese war konstitutiv für den Erwerb des Titels imperator augustus. Folglich kam es immer wieder zu Unterbrechungen in der Kaiserabfolge. In den 531 Jahren zwischen 962 und 1493 amtierte nur in ca. der Hälfte der Zeit ein Kaiser.
Wirkung nach außen.Dem mittelalterlichen Kaisertum wurden keine Eingriffsrechte in das Territorium anderer Länder zugestanden. Das Konzept des Kaisertums als universaler Weltherrschaft ist vielmehr eine sekundäre Erscheinung und wurde durch die Rezeption des römischen Rechts im 12. Jahrhundert ins Zentrum gerückt. Unter Otto I. implizierte das Konzept des Kaisertums keine Beeinträchtigung der anerkannten Gleichrangigkeit der Königreiche. Die Kaiserkrönung änderte daran grundsätzlich nichts, auch wenn sich Otto auf dem Kölner Treffen von 970 mit dem westfränkischen König Lothar als „Familienpatriarch“ (O. Engels) in Szene setzte. Die Mutter Lothars war eine Schwester Ottos I. und so ist seine Einmischung in westfränkische Belange eher aus der Pflicht des Seniors der Dynastie als aus einer hegemonialen Stellung des Kaisers zu verstehen. In der Folgezeit trafen sich die französischen und deutschen Könige in der Regel an der Grenze und erkannten die wechselseitige Souveränität an. Erst viel später und unter dem Einfluß der Wissenschaft vom römischen Recht wagte es Heinrich VII. Anfang des 14. Jahrhunderts, in einem Brief an den französischen König eine Überordnung des Kaisers geltend zu machen.
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