Wirkung nach innen.Ist in der politischen Theorie des Spätmittelalters fast durchweg von einer Wirkung des Kaisertums nach außen die Rede, so richtete sich die tatsächliche Stoßrichtung der nach Rom ziehenden deutschen Könige oft nach innen. Bereits Otto I. erhoffte sich durch die Rangerhöhung und die dadurch mögliche Zusammenarbeit mit dem Papst die zügige Verwirklichung seines Plans, in Magdeburg ein Erzbistum mit drei neuen Suffraganbistümern in Meißen, Merseburg und Zeitz zu gründen. Darüber hinaus setzte er mit der Annahme der Kaiserwürde ein Zeichen für eine stärkere herrschaftliche Durchdringung Italiens. Im Vorfeld des Romzugs ließ er seinen Sohn (Otto II.) in Worms zum Mitkönig wählen. Dieser Akt diente zum einen der dynastischen Stabilisierung; zum anderen wurde dem Adel eine neue Bezugsperson gegeben, die bei der Abwesenheit des Königs in Italien für herrschaftliche Kontinuität sorgen sollte. Im Jahr 967 ließ Otto I. seinen gleichnamigen Sohn in Rom zum Kaiser krönen, um die anvisierte Heirat mit der byzantinischen Prinzessin Theophanu vorzubereiten. Die schon in der Karolingerzeit praktizierte Institution des Mitkaisertums blieb jedoch ein Einzelfall. Der Papst als Konsekrator wollte sich diesen Trumpf nicht aus der Hand nehmen lassen und hat seit 967 keine Mitkaiser mehr ernannt. Mitkönige wurden dagegen bis zum Ende des Mittelalters erhoben. Otto III. erhielt Krönung und Salbung im Todesjahr seines Vaters (983); Heinrich III. wurde schon vier Jahre nach der Königswahl seines Vaters zum Nachfolger gemacht (1028). In der Regel sah sich der Herrscher erst nach der Kaiserkrönung zu diesem Akt ermächtigt; eine Ausnahme ist die Erhebung Heinrichs (VI.) durch seinen Vater Konrad III. (1147). Im Spätmittelalter gelang es nur mehr besonders gefestigten Herrschern wie Karl IV. (1376) und Friedrich III. (1486), ihre Söhne zu Königen erheben zu lassen und so die unabhängige Entscheidung des Kurfürstenkollegs zu unterlaufen. Daß das Mitkönigtum jedoch kein kaiserliches Reservatrecht war, zeigt ein Blick auf Frankreich. Die ersten französischen Könige aus der Dynastie der Kapetinger bemühten sich nach dem Dynastiewechsel von 987 ebenfalls um eine Regelung der Nachfolge zu ihren Lebzeiten. Robert II. wurde bereits im Jahr 987 zum König gekrönt, Heinrich I. im Jahr 1027. Nachdem sich jedoch das Prinzip der Primogenitur durchgesetzt hatte, erübrigte sich diese Form der dynastischen Stabilisierung. Im römisch-deutschen Reich machte dagegen gerade die Formierung des Wahlprinzips die Sicherung der Nachfolge notwendig. Erst die Kaiserwürde schien die dazu erforderliche Autorität zu verleihen, um die Fürsten als Wähler im voraus auf einen Kandidaten zu verpflichten.
Das Kaisertum brachte noch in einer anderen Hinsicht einen Gewinn an Autorität. Als Kaiser stand man in der Tradition der spätantiken Kaisergesetzgebung und mußte ein neues Herrscherprofil erfüllen. Karl der Große hat den Großteil seiner Gesetze erst nach der Kaiserkrönung erlassen. Die ottonischen Kaiser kamen durch Italien mit dieser Tradition in Verbindung. Während im Reich nördlich der Alpen das mündliche Gewohnheitsrecht die Praxis bestimmte und nur innerhalb der Kirche schriftliche Normen eine Bedeutung hatten, gab es in Italien eine lebendige Tradition schriftlicher Gesetzgebung. In der alten langobardischen Hauptstadt Pavia befand sich eine bedeutende Rechtsschule, an der Richter auf der Grundlage des Schriftrechts unterrichtet wurden. Anfang des 11. Jahrhunderts wurde dort das Recht der Langobarden mit den Gesetzen der Karolinger zum sogenannten Liber legis Langobardorum (oder Liber Papiensis) verbunden. In dieser Sammlung sind auch die Gesetze der römisch-deutschen Kaiser des 10. und 11. Jahrhunderts überliefert. Otto I. erließ im Jahr 967 in Verona ein umfangreiches Gesetz zur gerichtlichen Praxis des Zweikampfes. Otto III. trat auch erst nach seiner Kaiserkrönung (996) als Gesetzgeber in Erscheinung, indem er zum Status von Sklaven und zum Kirchengut neue Regelungen erließ. Heinrich II. übertrug diese kaiserliche Kompetenz erstmals auf das Reich nördlich der Alpen. Im Jahr 1019 urteilte er auf einer Synode in Goslar über die umstrittene Frage, welchen Status Kinder aus einer Ehe zwischen einem unfreien Priester und einer freien Frau haben sollten. Wenige Jahre später bestätigte er dieses Gesetz gemeinsam mit dem Papst in einem Edictum Augusti. Rein weltlicher Natur war das in Straßburg erlassene Gesetz zum Eherecht, Verwandtenmord und zum Landfrieden (1019). Nördlich der Alpen blieb dieses Anknüpfen an die Gesetzgebungstätigkeit der karolingischen Herrscher jedoch die Ausnahme. In Italien änderte sich der Bezugsrahmen im Lauf der Rezeption des römischen Rechts. Nach der Wiederentdeckung der Digesten aus dem Gesetzeswerk Justinians bildete nicht mehr das langobardisch-karolingische, sondern das römische Recht die Grundlage der juristischen Ausbildung in den Schulen Norditaliens. Die Doktoren der bedeutendsten Rechtsschule in Bologna setzten sich im Jahr 1155 mit Friedrich Barbarossa in Verbindung, der seiner Kaiserkrönung in Rom (18. Juni 1155) entgegenzog. Sie erbaten sich vom zukünftigen Kaiser ein Privileg, das unter anderem die Scholaren von der städtischen Gerichtsbarkeit befreien sollte. Friedrich I. kam dieser Bitte nach und erließ ein Gesetz, das er unter die antiken Kaisergesetze des Codex Iustinianus einzuordnen befahl. Dieses Scholarenprivileg wurde wie ein weiteres Gesetz Barbarossas und wie elf Gesetze seines Enkels Friedrich II. als Authentica in die mittelalterlichen Handschriften des Codex Iustinianus eingefügt. Seit Barbarossa beeinflußte das Bewußtsein der Nachfolge der römischen Gesetzgebung maßgeblich das Selbstverständnis der römisch-deutschen Kaiser. Der Anspruch, wie der römische Princeps über den Gesetzen zu stehen (princeps legibus solutus), war ein geläufiges Argument politischer Auseinandersetzungen, stieß jedoch überwiegend auf Ablehnung und auf die Forderung nach einer konsensualen Entscheidungsfindung. Ohne den gleichen Erfolg zu haben wie Friedrich Barbarossa, erließen Heinrich VII. und Ludwig IV. („der Bayer“) Kaisergesetze mit dem Anspruch universaler Rechtsgeltung. Karl IV. nahm unmittelbar nach seiner Kaiserkrönung (5. April 1355) das Projekt in Angriff, ein grundlegendes Gesetzbuch zur Königswahl und zur Kurfürstenwürde zu erlassen. Am Hoftag in Nürnberg (10. Januar 1356) verkündete er offiziell das Gesetzbuch, das im 15. Jahrhundert als erstes Reichsgesetz („Goldene Bulle“) allgemeine Anerkennung finden sollte.
Emanzipation.Seit dem Jahr 875 hat das Papsttum über die Vergabe des Kaisertums entschieden. Eine Ableitung der kaiserlichen Gewalt aus der Machtfülle des Papsttums folgerte erstmals Gregor VII. in seinem Dictatus papae [↗ Papsttum]. Im 12. Jahrhundert entzündete sich die Debatte um die Stellung des Kaisertums am Strator- und Marschalldienst, das heißt an der Forderung des Papstes, daß der Kaiser bei der Zusammenkunft mit dem Papst das Pferd am Zügel führen und dem Papst beim Absteigen den Steigbügel halten soll. Den Stratordienst hat nach der Konstantinischen Schenkung (ca. 800) bereits Kaiser Konstantin beim Zusammentreffen mit Papst Silvester geleistet. In der Realität wurde dieser Ehrendienst dem Papst vermutlich 754 durch Pippin I. oder spätestens beim Treffen zwischen Ludwig II. und Nikolaus II. im Jahr 858 erwiesen. Der Marschalldienst ist dagegen erstmals 1131 nachweisbar, als Lothar III. den Papst in Lüttich ehrenvoll empfing. Der König ging dem Papst entgegen, führte sein Pferd am Zügel, hielt die herandrängenden Menschen mit einer Rute fern und half ihm schließlich durch das Festhalten des Steigbügels vom Pferd. Als über zwanzig Jahre später Papst Hadrian IV. dieselben Dienste von Friedrich I. forderte, kam es zum Eklat. Friedrich wurde durch diese rituellen Handlungen der Eindruck einer lehensrechtlichen Unterordnung suggeriert, den er auf alle Fälle vermeiden wollte. Nach Vorlage eines Dokuments und nach bestätigenden Zeugenaussagen erklärte sich Friedrich schließlich doch dazu bereit. Die Wahrung des honor imperii wird auch wenig später sichtbar, als er nach seiner Ankunft in Rom darauf bestand, Fresken in einer Kapelle der Lateranskirche entfernen zu lassen, die eine lehensrechtliche Unterordnung Lothars III. bildlich festhielten. Am Hoftag von Besançon (1157) wies er aus denselben Gründen gegenüber dem päpstlichen Legaten empört die Bezeichnung des Reichs als beneficium/Lehen ab. Der deutsche Königshof hielt wie schon zur Zeit des Investiturstreits an der Formel der gottunmittelbaren Stellung des Herrschers fest. In der Kanzlei Friedrichs I. kam diese Anschauung durch die Begriffsbildung sacrum imperium (seit 1157) zum Ausdruck.
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