Das Verständnis der Salbung änderte sich im 9. und 10. Jahrhundert. Zunächst löste sich im Westfrankenreich die Salbungspraxis vom Amt des Papsttums. Im Jahr 848 führte mit Wenilo von Sens erstmals ein Bischof die Salbung eines Königs durch (wenn man von der in der Forschung umstrittenen Salbung Pippins durch Bonifatius im Jahr 751 absieht). Ziel dieser Handlung war es, die Herrschaft Karls des Kahlen in Aquitanien zu festigen. Im Jahr 869 wurde Karl der Kahle nochmals durch einen Bischof gesalbt, und zwar bei der Annexion des Mittelreichs nach dem Tod Lothars II. Als zukunftsweisend erwies sich die Kombination der Salbung mit einer Wahlhandlung und mit einem Throngelübde. Der König sollte sich dadurch zum Konsens mit den Großen des Reichs, zur Geltung des Kirchenrechts und zur Anerkennung der ethischen Normen der Königsherrschaft verpflichten. Diese Abfolge von Wahl, Throngelübde und Weihe wurde zur Norm für die meisten Königserhebungen im Mittelalter.
Im Ostfrankenreich fand die erste gut bezeugte Salbung durch einen Bischof erst im Jahr 936 statt. Otto I. ließ sich in Aachen nach der Huldigung des fränkisch-sächsischen Adels durch den Erzbischof von Mainz salben und krönen. Diese Inbesitznahme der Herrschaft fand im Rahmen einer Messe statt. Nachdem sich eine personale Salbung auch bei Priestern und Bischöfen durchgesetzt hatte, wurde auch die Königssalbung in diesem Rahmen neu gedeutet. Der quasi-sazerdotale Charakter des Königtums artikulierte sich in der Liturgie während der Krönungsmesse. Der König wurde als Stellvertreter Christi auf Erden, als Mittler zwischen Geistlichkeit und Laien und als Teilhaber an der bischöflichen Gewalt angesprochen. Diese sakrale Stellung des Herrschers schlug sich in den berühmten und oft gedeuteten Herrscherbildern der ottonisch-salischen Zeit nieder. Ihr Charakteristikum ist, daß sie innerhalb von liturgischen Prachthandschriften überliefert sind und eine besondere Nähe des Königs zur göttlichen Sphäre suggerieren. Die göttliche Erwählung des Monarchen ist als Anspruch und gleichermaßen als Verpflichtung ins Bild gesetzt. Darüber hinaus sind diese Herrscherbilder Ausdruck der zeitgemäßen Frömmigkeit: Innerhalb des liturgischen Kontexts sollten sie das Gebetsgedenken (memoria) der durch die Schenkung der Handschrift verpflichteten Institution gewährleisten. Die Sicherung des Heils durch das kollektive Gebetsgedenken galt als ein zentrales politisch-religiöses Anliegen in der ottonisch-salischen Zeit.
Die Etablierung einer priesterlichen Qualität des Königtums im Reich der Ottonen muß auch vor dem Hintergrund der sich intensivierenden Herrschaft über die Reichskirche gesehen werden. Der König setzte nicht nur die Bischöfe ein, er ließ sie in seiner Hofkapelle ausbilden und investierte sie durch die Übergabe von Stab und Ring. Diese Praxis geriet im Verlauf der Kirchenreform des 11. Jahrhunderts zunehmend in die Kritik. Die Kirche konstituierte sich in dieser Zeit als Amtshierarchie mit dem Papst an der Spitze und stellte den Einfluß der Könige auf die Bestellung von Bischöfen in Frage. Seit 1078 bestritt Papst Gregor VII. dem König offen das Recht auf Einsetzung (Investitur) der Bischöfe. In den Streitschriften dieser Jahre wurde folglich auch die Stellung des Königs innerhalb der Christenheit kontrovers diskutiert. Das Werk des Gregorianers Manegold von Lautenbach († ca. 1103) zeigt auf, zu welchen Positionen damals die Theoriebildung fähig war. Manegold verglich den König mit einem Schweinehirten, dem ein Amt anvertraut sei, das ihm auch wieder entzogen werden könne. Eine Stellvertreterschaft Gottes oder gar eine priesterähnliche Verantwortung enthielt er dem König ausdrücklich vor. Diese Position sprengte den Konsens der Zeit und sollte keine Schule machen. In der Mitte des 12. Jahrhunderts reklamierte Friedrich I. Barbarossa die Gottesunmittelbarkeit seiner Herrschaft für sich und nahm die Bezeichnung sacrum imperium auf, um die Gleichrangigkeit des Reichs mit der sancta ecclesia und dem heiligen byzantinischen Reich herauszustellen.
Daß trotz des Investiturstreits die Sakralität des Königtums eine weitere Steigerung erfahren konnte, zeigt die zeitgleiche Entwicklung in England und Frankreich. Kurz nach 1100 berichten zwei Chronisten unabhängig voneinander über die wunderwirkende Kraft, die den englischen und französischen Herrschern durch ihre königliche Herkunft zukommen würde. Bei Ludwig VI. von Frankreich (1108–1137) ist bereits von einem „gewohnten Wunder“ die Rede: Der König habe wie seine Vorgänger durch Handauflegung und Schlagen des Kreuzzeichens die Heilung von den Skrofeln bewirkt [↗ Wunder]. Im 13. Jahrhundert zählte die Heilung von den Skrofeln zur allseits anerkannten Inszenierung königlicher Sakralität. In England belegt die königliche Rechnungslegung, daß in einem Jahr bis zu 1736 Kranke vom Monarchen gesegnet wurden. In Frankreich wurde diese Heiligung der Dynastie noch durch das asketische Leben Ludwigs IX. gesteigert. Die Heiligsprechung Ludwigs im Jahr 1297 benutzte sein Enkel Philipp IV. zur Demonstration, daß die eigene Dynastie durch vollkommene Reinheit des Blutes geheiligt sei und heilige Könige hervorbringen könne. Der König nahm als rex christianissimus diese Sakralität zum Anlaß, eine besondere Verantwortung für die Kirche zu beanspruchen, die ihm sowohl zum Vorgehen gegen den Papst (Bonifaz VIII.) als auch zur Verfolgung von Häretikern (Tempelritter) berechtigen sollte. Auf gelegentlich kursierende Vorwürfe der illegitimen Abkunft oder des Ehebruchs in der königlichen Familie reagierte Philipp IV. mit äußerster Brutalität. Die „religion royale“ der französischen Könige war ein wichtiges Instrument, um den feudalstaatlichen Charakter Frankreichs aus den Angeln zu heben.
Transpersonalität.Das frühmittelalterliche Königtum entstand aus den Eroberungen germanischer Kriegsherren (sogenannter Heerkönige). Ihre Reiche hatten daher einen patrimonialen Charakter. Am deutlichsten trifft dies auf das Frankenreich zu. Nach dem Tod des Reichsgründers Chlodwig wurde das Reich wie privates Eigentum gleichmäßig auf alle vier Söhne aufgeteilt. Diese Teilungspraxis bestimmte die gesamte fränkische Geschichte unter den Merowingern und Karolingern. Gehemmt wurde sie zeitweise durch den Anspruch des Adels, bei der Entscheidung über das Bestehen von Teilreichen mitzuwirken. So unterstützte der Adel Austrasiens im Jahr 533 den Anspruch Theudeberts I. auf die Nachfolge im Teilreich seines Vaters und vereitelte den Versuch seiner Onkel, das Erbe unter sich aufzuteilen. In der Schwächephase der Merowinger zu Ende des 7. und zu Anfang des 8. Jahrhunderts ließen die übermächtigen Hausmeier nicht alle Anwärter auf das Königsamt an der Herrschaft teilhaben. Die Karolinger orientierten sich nach der Machtübernahme von 751 wieder an der Teilungspraxis des 6. Jahrhunderts. Neben der Mitbestimmung des Hochadels kannte der patrimoniale Charakter des Königtums noch eine weitere Grenze. Als Rechtsnachfolger des Kaisers übernahm der fränkische König das ausgedehnte römische Fiskalland und wurde so zum größten Grundbesitzer im Reich. Dieses Fiskalland konnte der König verschenken oder zur Leihe ausgeben; es zählte jedoch nicht zum Privatbesitz des Königs. Karl der Große verfügte in seinem privaten Testament zwar über den gesamten Königsschatz und die beweglichen Güter; das Fiskalland sollte jedoch über die in der divisio regnorum anvisierte Herrschaftsteilung (806) an die Teilkönige übergehen.
Das Reich der Franken hatte also kaum eine vom Königtum unabhängige Existenz. Es war der Kontingenz dynastischer Wechselfälle unterworfen. Selbst die Etablierung eines Reiches konnte durch eine Herrschaftsteilung vonstatten gehen, wie das Beispiel des regnum Hlotharii (Lothars II.) zeigt. Durch den Zusammenhalt der dort ansässigen Aristokratie existierte dieses Reich auch nach dem Ende der Dynastie, ohne spezifische Institutionen oder eine Kontinuität stiftende Symbolik auszubilden.
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