1 ...6 7 8 10 11 12 ...25 Nach allen zähen Vorlesungen, die er schon besucht und überstanden hatte, gab ihm die Lektüre eines – er musste es zugeben – spannenden Buches über die öffentliche Meinung und deren Bedeutung für die Gesellschaft den Rest, was seine Entfremdung vom Rest der Welt, insbesondere aber von den Soziologen anging. In diesem Buch stellte die Meinungsforscherin Elisabeth Noelle-Neumann etliche Studien vor, in denen die Beeinflussbarkeit des Menschen als soziale Wesen untersucht wurde.
Eine Testreihe aus den fünfziger Jahren, von einem Team amerikanischer Wissenschaftler durchgeführt, verstörte Beene bei der Lektüre besonders. Dabei wurde den Testpersonen vorgegaukelt, es handele sich um einen Versuch über den Zusammenhang zwischen Schmerz und Konzentrationsfähigkeit. Der Proband sollte als Lehrer einem Schüler im Nebenraum, zu dem nur eine Verbindung über eine Sprechanlage, aber kein Sichtkontakt herrschte, Aufgaben stellen. Der Schüler im Nebenraum war verkabelt. Wenn er eine falsche Antwort gab, sollte der Lehrer ihm einen Stromstoß geben und die nächste Frage stellen. Die Stärke der Stromstöße sollte dabei gesteigert werden, die Anweisung dazu, wie hoch, gab der Wissenschaftler, der sich mit im Raum des Lehrers befand.
Würden die Lehrer ihre Schüler mit Stromstößen quälen, wenn es zu einem Versuch gehörte, zu dem sie sich vorher bereit erklärt hatten? Ja, das taten sie. Würden sie aufhören, wenn sie die ersten Schreie hörten oder erst, wenn die Stromstärke die deutlich am Drehschalter markierte, tödliche Höhe überstieg? Nein, viele hörten auch dann nicht auf. Gepeinigt, gequält wie ihre Schüleropfer, versuchten sie Einspruch zu erheben, aber letztendlich hörten sie doch auf den Versuchsleiter, denn schließlich hatten sie sich verpflichtet, der Wissenschaft zu dienen.
Was sie nicht wussten, die Lehrer: Sie selbst waren die Opfer. Es gab keinen Schüler im Nebenraum, die Antworten und Schmerzensschreie wurden von Band abgespielt und die eigentliche Forschungsfrage lautete: Zu wie viel Grausamkeit ist ein Mensch bereit, wenn es ihm von einer Autoritätsperson befohlen wird?
Von dem kleinen Prozentsatz derer abgesehen, die auf sozialen Druck weitgehend unempfindlich reagierten, war die Menschheit bereit, all ihr Wissen, all ihre Moralvorstellungen zu leugnen, wenn sonst Schmähungen und Isolation drohten, zu diesem Ergebnis kam die Meinungsforscherin in ihrem Buch. Den mündigen Bürger, diese hehre Vorstellung der Aufklärung, es gab ihn nicht. Vielmehr war der Einzelne beständig auf der Suche nach der Instanz, von der er sich vertrauensvoll leiten lassen durfte.
Nach der Lektüre war Beene weit davon entfernt, mit neuem Interesse für sein Studienfach erfüllt zu sein; er hatte seelisch schwer zu kämpfen. Für ihn waren nicht nur die Ergebnisse der Testreihen verstörend. Was ihn noch betroffener machte, war der Wissenschaftsbetrieb, der in der Lage war, sich diese Versuche auszudenken, der bereit war, den Einzelnen im Labor zu entlarven und an persönliche moralische Abgründe zu führen, nur um danach in Statistiken festhalten zu können, bei wie vielen es gelungen war. Wie konnte ein Wissenschaftler die absolute Unfähigkeit seines Probanden zu eigenverantwortlichem Handeln konstatieren, ohne sich gleichzeitig zu Tode zu schämen, dass er diesen auf so rücksichtslose Art bloßgestellt hatte? Beene erschien das menschenverachtend, kaum besser als die medizinischen Versuche, die das Dritte Reich unternommen hatte.
Wurden die Probanden im Nachhinein darüber aufgeklärt, dass sie nicht wirklich jemanden gefoltert hatten, sondern selbst beobachtet wurden? Über dieser Frage grübelte Beene die ganze Nacht, nachdem er das Buch zu Ende gelesen hatte. Und was war für diese eigentlich besser? Der Glaube, einen Menschen gefoltert zu haben oder das Wissen, dass man einen Menschen gefoltert hätte, nur weil man nicht aus der Rolle fallen wollte, und dass alle anderen jetzt wussten, was für ein brutaler Schwächling man war?
Sein Studienfach sezierte die Gesellschaft, ohne zu erkennen, dass diese aus verletzlichen Individuen bestand. Diese Erkenntnis machte Beene Angst. Ihn trieb ein geheimes Grauen aus den Hörsälen, die Vorstellung, er werde selbst bald auf dem Seziertisch liegen und auf seine Standhaftigkeit und moralische Größe überprüft werden, wenn er nicht so schnell wie möglich floh.
Ja, es war eine Flucht, eindeutig, und so saß er hier jetzt, verschwitzt, Panik im Herzen, die Augen vor der unerträglichen Realität noch immer geschlossen. Eine entspanntere Fahrt hätte seinem überstürzten Aufbruch und seiner inneren Verfassung so wenig entsprochen, dass er dieses stickige Großraumabteil irgendwie passend, fast schon angemessen fand. Ihm fehlte die innere Kraft zu dem Urteil, dass er zum Wissenschaftsbetrieb seiner Fakultät einfach nicht mehr dazugehören wollte, weil es ihn abstieß. Und somit war es keine große freie Entscheidung, das Studium abzubrechen, wie ein anderer es sich selbst und allen anderen glaubhaft gemacht hätte, sondern ein weiterer Schlag, den er einzustecken hatte.
Er fürchtete die Auseinandersetzung mit seinen Eltern. Sie hatten sich zwar nie für seine Berufswünsche interessiert, aber sie unterstützten ihn finanziell, und er vermutete, dass sie zumindest deshalb eine Erfolgserwartung an ihn hatten, eine Erwartung, die er heute endgültig würde enttäuschen müssen. Er hoffte, dass Hauke ihm bei dem Gespräch zur Seite stehen würde, Hauke war Spezialist darin, Meinungen zu äußern, immer bereit, Stellung zu beziehen, ohne sich mit Zweifeln an deren Allgemeingültigkeit zu belasten. Je länger Beene dagegen über ein Problem nachdachte, umso mehr erfasste er die Tatsache, dass die Welt komplex und ihre Fragen zu kompliziert waren, um sie mit kurzen Sätzen zu beantworten. So war es auch im Studium gewesen. Je mehr er lernte, desto besser konnte er all die tiefen Schluchten der Wissenslücken erkennen, die sich zwischen den Inselchen gesicherten Wissens auftaten, die er sein Eigen nennen konnte. Und diese Erkenntnis ließ ihn nicht nur zögern, sich feste Meinungen zu bilden, sie hinderte ihn auch daran, Entscheidungen zu treffen. Zu groß war die Gefahr, etwas Entscheidendes übersehen zu haben.
Bei Hauke schien dagegen immer alles leicht. Nach seinem Realschulabschluss hatte er eine Ausbildung zum Maler und Lackierer gemacht, um irgendwann den Betrieb seines Vaters zu übernehmen, sich dann jedoch entschieden, erst einmal woanders zu arbeiten, um Konflikte zu vermeiden. Keine Angelegenheit, die Hauke ins Schwitzen brachte. Er war jung, das Leben noch lang. Beene bewunderte die Leichtigkeit, mit der es seinem Freund gelang, Distanz zu schaffen, ganz ohne die räumliche Entfernung, die er selbst gemeint hatte, zwischen sich und seine Eltern legen zu müssen. Er hatte die zähen Familienbande bis zum Zerreißen gespannt, um sich selbst seine Eigenständigkeit zu beweisen und wurde jetzt mit dem elastischen Schwung eines Gummibandes in die Heimat zurückkatapultiert, als sei er völlig ohne Eigengewicht. Hauke hatte seinen kurzen Faden einfach durchgeschnitten.
Der Zug fuhr in Oldenburg ein, und wie erwartet leerte sich das Großraumabteil bis auf wenige Reisende, die sich neu über die nun großzügig vorhandenen Sitzplätze verteilten. Beene blieb allein in seiner Vierergruppe Sitze und konnte endlich seine langen Beine ausstrecken. Mit Erleichterung stellte er fest, dass sich auch sein Geist zu entspannen schien und offensichtlich bereit war, den neuen Raum um ihn herum mit Gedanken zu füllen.
In Oldenburg hielt der Zug immer fahrplanmäßig mindestens zehn Minuten. Warum, das wusste Beene nicht so genau, vielleicht Personalwechsel? Oder ein eingebauter Puffer, damit die Züge wenigstens manchmal pünktlich ankamen? Als er endlich abfahren sollte, öffnete sich noch einmal die Tür und ein rothaariges Mädchen kam atemlos ins Abteil und ließ sich Beene gegenüber auf die Sitzbank fallen. Sie legte ihr Handy neben sich aufs Polster und durchwühlte ergebnislos ihre Taschen, fluchte leise und steckte das Handy wieder weg. Kopfhörer vergessen , dachte Beene. Seine lagen irgendwo in seiner Reisetasche, und einen kurzen Moment überlegte er, ob er sie hervorkramen und verleihen sollte, dann verwarf er die Idee. Wahrscheinlich fand sie es abstoßend, die Stöpsel fremder Leute in ihre Ohren zu stecken. Die Rothaarige schaute aus dem Fenster. Die schräg ins Abteil scheinende Sonne leuchtete von hinten durch die lockigen Strähnen, die ihr schmales Gesicht einrahmten, und machten sie zu einer rotgoldenen Aureole.
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