„Als du etwa neun Monate alt warst, begann dein rotes Haar zu wachsen. An deinem ersten Geburtstag war es schon eine solche Lockenpracht, dass man es nicht mehr leugnen konnte. Und mit deinem Haar wuchs auch wieder die Angst in mir. Dein Vater liebte dich, er vergötterte dich ebenso wie deine Schwestern, vielleicht sogar noch mehr. Und dann, eines Abends nach Feierabend, stand er nervös in der Küche und sagte mir, er habe ein Geschenk für mich. Es war das Bild.“
Alma verstummte erneut, dann huschte ein Lächeln über ihr hageres, gelbliches Gesicht. Ihr Blick schien in die Vergangenheit zu reisen. Es dauerte wieder einige Minuten, bevor sie weitersprechen konnte. Dann schaute sie Anja direkt in die Augen.
„Verstehst du? Es ist von deinem Vater. Er hat es mir geschenkt. Er hat mir damit unsere Ehe zurückgegeben, unser Glück, ein unbeschwertes Glück über unser drittes Kind, über dich, über dein schönes Haar ...“
Wieder erstarb die leise Stimme aus den Kissen. Langsam drang die Bedeutung dessen, was ihre Mutter ihr gerade erzählt hatte, in Anjas Bewusstsein. Alma fuhr trotzdem mit ihrer Erklärung fort.
„Er hat alles gewusst, irgendwie, aber er wollte es gar nicht wissen. Er wollte mich so behalten, wie ich war, und er wollte dich, und er wollte, dass ich das weiß. Es war das schönste Geschenk, das er mir jemals gemacht hat.“
„Also habt ihr beide den Rest eures Lebens freiwillig mit einer Lüge gelebt? Aus lauter Feigheit?“
Anjas Wut war verflogen, ihre Hilflosigkeit aber war geblieben, und die Übereinkunft ihrer Eltern machte sie fassungslos.
„Warum hätten wir reden sollen, wenn wir uns auch ohne Worte verstanden haben?“, fragte Alma sanft, noch immer in der Hoffnung auf eine gefühlsmäßige Annäherung.
„Und deine ganze Angst und Verzweiflung? Die hättest du dir durch ein paar Worte ersparen können.“
Und meine Angst und Verzweiflung hättest du mir damit auch ersparen können , setzte Anja in Gedanken hinzu.
Sie nahm ihre Jacke und zog sie über. Sie musste hier raus, ihr war übel.
„Nein“, antwortete Alma und unternahm damit einen letzten Versuch, das Verständnis ihrer Tochter zu gewinnen.
„Die Angst vor den Worten war noch größer.“
Da schlug Anja die Zimmertür hinter sich zu.
Sie war also ein Kuckuckskind. Das Geständnis ihrer Mutter legte sich als zusätzlicher Schatten auf Anjas Seele und mischte sich dort mit älterem Kummer zu einem Gefühlschaos, das sich nicht mehr ordnen ließ.
Es war ja gar nicht wirklich ihr Leben. Es waren gar nicht wirklich ihre Eltern, die einfach starben und sie in diesem Chaos zurückließen. Ihr toter Vater war nicht ihrer gewesen und in ihrer wirren Verunsicherung fragte sie sich sogar, ob ihre Trauer an ihn verschwendet gewesen war oder ob sie gar unrechtmäßig getrauert hatte, eine Trauer, die nur ihren Schwestern zugestanden hätte.
Ihre Mutter blieb natürlich ihre Mutter, aber in ihrer Vorstellung war sie amputiert. Was war eine Mutter ohne den Vater, es waren doch immer Eltern, die ein Kind trugen? Sie versuchte, sich ihre Mutter mit einem anderen Mann vorzustellen, in ihrer Fantasie ein neues Elternpaar zu erschaffen, mit dem sie gemeinsam ein Dreigestirn bilden könnte, aber das Bild blieb weiß. Ihre Mutter stand einsam und nackt im Raum. Sie hatte sie nicht nur ihre ganze Kindheit über angelogen, sie hatte ihr auch den Vater geraubt. Anja hatte Anton gerade ein zweites Mal verloren. Beim ersten Mal war er als ihr Vater gestorben, jetzt wurde ihre Vorstellung von ihm als Vater gelöscht. Alle Erinnerungen, die sie an Anton hatte, schienen zu verblassen wie alte Fotos in einem Album. Die weißen Flächen, die an ihre Stellen traten, machten Anja Angst. Die Wut auf ihre Mutter war leichter zu ertragen gewesen als dieses Gefühl des Abgleitens ins Nebulöse.
Anja ging durch die warme Spätsommersonne nach Hause, dort kochte sie sich einen schwarzen Tee in der blauweißen Porzellankanne, die ihrem Vater – dem, den sie einmal gekannt hatte – am liebsten gewesen war. Die Metallkanne, die ihre Mutter immer benutzt hatte, stellte sie außer Sichtweite oben auf den Küchenschrank, dabei streifte ihr Blick die Pinnwand. ‚Rühr nicht ans Geröll‘, stand dort. Jetzt hatte ihre Mutter daran gerührt, aus freien Stücken, und das Ergebnis war genau das Desaster, das sie erwartet hatte. Wie sie vorhergesehen hatte, war es gefährlich, einen Steinschlag auszulösen, und jetzt war ihre Tochter dem Geröll zum Opfer gefallen.
Während Anja noch überlegte, ob es für sie eine Befreiung wäre, das Plakat zu zerstören, klingelte es an der Haustür. Sie war einigermaßen überrascht, denn ihre Freundinnen besuchten sie nur auf Einladung. Das mutterlose Haus wirkte anscheinend nicht so richtig sturmfrei, sondern eher gruselig auf ihre Mitschüler. Draußen stand Beene, der Typ aus dem Zug.
"Hallo Angel!"
Er grinste sie etwas verlegen an. Anja ließ ihn stumm an sich vorbei in die Küche gehen. Sie atmete tief durch und versuchte, ein einigermaßen freundliches Gesicht aufzusetzen. Dann bot sie ihm einen Tee an.
„Ich hatte dich zwar zum Kaffee eingeladen, aber das war ein Versprecher. Kaffee gibt es bei mir nicht.“
„Da würdest du dich hervorragend mit meinem Onkel verstehen, der trinkt auch nur Tee“, erwiderte Beene fröhlich.
Sie nahmen die Tassen mit auf die Terrasse, wo sie sich in eine Hollywoodschaukel setzten, und Anja erkundigte sich nach Beenes Aussprache mit seinen Eltern.
„Ach, das war halb so wild. Ich hatte vorher schon mit meinem besten Freund gesprochen, und das war die eigentliche Hürde gewesen. Nachdem der die Kröte geschluckt hatte, war ich schon richtig geübt im Vermitteln von unerfreulichen Neuigkeiten.“
Er lachte.
„Und eigentlich schien mein Vater sogar ganz froh zu sein, weil ich seinem Bruder damit aus der Patsche helfe. Er hat mich nur mehrere Male sehr eindringlich gefragt, ob es auch wirklich mein Wunsch sei. Das konnte er sich nicht so richtig vorstellen.“
„Wie dein Kumpel ja anscheinend auch nicht.“
„Stimmt, aber der hatte eher finanzielle Bedenken, weil die Höfe heute kaum noch etwas abwerfen. Und außerdem meinte er, ich sei zu Höherem geboren.“
Darüber konnte Anja zumindest lächeln.
„Von seiner Hände Arbeit lebt nur das niedere Volk“, deklamierte Beene etwas übertrieben. „Wer etwas auf sich hält, der bewegt nur seinen Geist.“
„Na, dann sind Ärzte ja von wirklich niederer Geburt – besonders die Chirurgen“, überlegte Anja leicht amüsiert. „Und was ist mit Musikern? Pianisten zum Beispiel?“
„Es gibt natürlich Ausnahmen. Aber ganz im Ernst, der Leeraner Ruderverein hat bei seiner Gründung 1903 die Satzung von einem Hamburger Verein abgeschrieben, und der hatte sie wiederum von einem aus Oxford abgeschrieben und so weiter. Und da stand tatsächlich drin, dass in den Verein nur Mitglieder aufgenommen werden, die nicht ‚von ihrer eigenen Hände Arbeit‘ leben müssen. Als der erste Zahnarzt in den Verein eintreten wollte, musste erst mal die Satzung geändert werden. Ist aber auch heute noch ein Spießerclub.“
„Na ja, ich habe aber ein paar ganz nette Mitschüler, die dort trainieren“, wandte Anja ein.
„Eben“, betonte Beene. „Alles Leeraner Haute Volée. Wer halt so aufs Gymnasium kommt.“
„Aber du warst doch auch da?“
„Stimmt“, bestätigte Beene, „als Außenseiter-Landei mit Klei an den Botten.“
„Na, dann hast du dir ja jetzt den richtigen Job gesucht, um dieses Klischee zu bestätigen“, entgegnete Anja spöttisch.
„Das stimmt wohl auch“, gab Beene zu.
„Mut gemacht hat mir auch nur mein Onkel. Aber der muss es wissen, er ist ja selbst Bauer. Was willst du denn eigentlich nach dem Abi machen?“
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