Am Abend der Vorstellung wurde aus den Blumen für die Mama eine einzelne, zart apricotfarbene Rose für Alma. Sie war so entzückt, dass sie Anton am liebsten um den Hals gefallen wäre. Nach dem Theater folgte ihr erster Kuss und bald darauf hielt er bei ihrem Vater um ihre Hand an, als hätte es niemals eine sexuelle Befreiungsbewegung gegeben.
Und diesem Mann, dessen sanfte Art in ihren Augen vielleicht inzwischen den Abstieg von ritterlicher Zurückhaltung zu langweiliger Eintönigkeit erlitten hatte, der aber seit eh und je treu zu ihr gehalten hatte und sie zumindest im übertragenen Sinn auf Händen trug, hatte sie die Hässlichkeit einer Affäre angetan, und das nur, weil sie im aufregenden Gewand einer Romanze daherkam.
Alma war sich sicher, dass Anton nach der Geburt sofort erkennen würde, dass das Kind nicht von ihm stammte. Und damit würde sie ihn verlieren, ihn und ihr Leben mit ihm und den Kindern. Denn wie sollte es anders gehen, als dass er sie zur Rede stellen würde, sie alles gestehen müsste und in Schimpf und Schande von ihm aus dem Haus gejagt würde? Manchmal hatte sie zarte Hoffnungsschimmer. Vielleicht war das Kind doch von ihm oder es war ihr selbst so ähnlich, dass niemand etwas merkte. Bis zur Geburt schwankte sie zwischen Hoffen und Bangen. Einige Male war ihre Verzweiflung so groß, dass sie Anton fast ihr Herz ausgeschüttet hätte. Doch der Zufall verhinderte es, indem er dafür sorgte, dass Anton gerade an diesen Tagen länger arbeitete, Termine hatte oder anders verhindert war. Zu einer Aussprache kam es nie.
Während Alma ihrer Tochter im Hospiz die Geschichte von deren Herkunft anvertraute, hatte sie die letzte Episode mit Giacomo, dieses böse Ende ihrer Affäre, natürlich nicht erwähnt. Ihre Not während der Schwangerschaft und ihre verzweifelte Angst vor der Geburt verschwieg sie ebenso wie ihre Ängste in Bezug auf Anjas Charakter, die sie in den Jahren danach gequält hatten. Voller Furcht erwartete sie ständig, aus Anja das Monster hervorbrechen zu sehen, das sie während der Schwangerschaft in ihrem Leib gespürt hatte, und das sie tief in ihrem kleinen Mädchen verborgen wähnte. Sie suchte an ihrer Tochter nach Anzeichen von Egoismus und Brutalität, die sie an deren Vater erlebt hatte und die er ihr vererbt haben könnte. Doch abgesehen von einer wilden, extrovertierten Art konnte Alma nichts Ungewöhnliches feststellen. Außer der Haarfarbe natürlich.
Alma hatte mit leiser Stimme gesprochen, wie es ihre Art war, und dabei Anjas Hand gehalten, zum ersten Mal seit Langem. Anja hätte sich am liebsten übergeben. Nachdem Alma mit ihrer Geschichte endlich zu einem Ende gekommen war, schien jedes der sanften Worte ihrer Mutter in ihrem Magen zu einem Butterklumpen geronnen zu sein, der ihre Magensäfte zum Überlaufen brachte. Sie hasste Butter. Und sie hasste sanfte Worte.
Der Klumpen hinderte sie am Sprechen, doch ohnehin fiel ihr nichts ein, was sie auf dieses Geständnis hätte erwidern können, und fühlte sich so ohnmächtig, dass sie für einen Moment glaubte, tatsächlich die Besinnung verlieren zu müssen, geschlagen ohne die Möglichkeit zur Gegenwehr. Erneut stieg Wut in ihr auf. Auf ihre Mutter, die sie so lange belogen hatte, aber vor allem auf sich selbst. Auf ihre blinde Dummheit. Ihre dämliche Naivität. Wahrscheinlich wusste es seit ihrer Geburt jeder in der Familie außer sie selbst. Es war so offensichtlich! Ihre Haare, ihre Figur. Es lag auf der Hand, dass das nichts mit Familie Fresemann zu tun haben konnte, den kleinen, runden, gutmütigen Fresemanns, die jeden Geburtstag gemeinsam feierten, sich liebten und trösteten und niemals wütend wurden. Dieser kleinen glücklichen Familie von Butterfressern.
Sie hätte brüllen mögen wie ein Löwe, doch ihre Kehle war wie zugeschnürt. Ein dunkler Schleier legte sich vor ihre Augen ließ das Bild des Krankenzimmers verschwimmen. Mit der linken Hand hielt sie die Armlehne ihres Stuhls so fest umklammert, dass sie einen Krampf im Daumen bekam.
Sie gehörte einfach nicht dazu! Was sie schon immer gefühlt hatte, jetzt war es endlich heraus. Ihre Mutter hatte es endlich ausgesprochen, ihr endlich offen ins Gesicht gesagt, dass sie sich noch so bemühen konnte, sie war einfach keine von ihnen. Wollte sie auch gar nicht sein. Aus ihrer Bitterkeit stieg Trotz auf. Eigentlich konnte sie froh sein, dass sie nicht dazugehörte, zu diesem spießigen Familienhaufen, alle so brav und anständig.
„Ich bin froh, dass ich nicht zu euch gehöre“, stieß sie mühsam hervor und schaute ihrer Mutter direkt in das ausgemergelte Gesicht.
Alma erstarrte. Die Worte ihrer Tochter trafen sie wie ein Schlag. Sie hatte mit Betroffenheit gerechnet, natürlich, aber auch mit Fragen und Neugier. Aber aus Anjas Stimme schlug ihr echte Ablehnung entgegen, das traf sie unvorbereitet.
„Aber Anja, natürlich gehörst du zu uns“, sagte sie schwach, „du bist doch meine Tochter.“
„Ach ja?“
Anja sprang auf.
„Was hab ich denn davon, deine Tochter zu sein? Die Tochter einer Schlampe! Die es noch nicht einmal fertigbringt, ihrem Mann die Wahrheit zu sagen.“
Die Wut brach sich ihre Bahn, Anja konnte sich nicht zurückhalten, obwohl sie sah, wie sehr die Worte ihre Mutter verletzten. Alma schien tiefer in ihre Kissen zu rutschen, als versuchte sie, Schlägen auszuweichen.
„Alle wussten es, oder? Alle wussten es, nur mich habt ihr wie ein Dummchen behandelt, als müsstet ihr mich in Watte packen und in eurer schleimigen Liebe ertränken, die ich hasse wie die Pest.“
Anja musste Luft holen.
„Aber Anja, das stimmt doch gar nicht ...“
Alma versuchte, die kurze Pause zu nutzen, doch dazu fehlten ihr die Worte und vor allem die rechten Argumente. Und auch die Kraft. Da ist es endlich, das Monster , dachte sie, entsetzt über ihre eigene Schwäche, jetzt, da sie so dringend mehr Kraft gebraucht hätte.
„Und du“, Anja brüllte jetzt tatsächlich, „mit deinem Scheiß-Geröll, an das man nicht rühren darf! Jetzt ist mir endlich klar, was das sein sollte. Keiner sollte es aussprechen, alle dein mieses, dreckiges, kleines Geheimnis bewahren. Sehr einfach hast du es dir gemacht. Sich erst benehmen wie die letzte Nutte und dann allen verbieten, die Wahrheit zu sagen!“
Alma hatte Mühe, Anjas Worten zu folgen. Sie fühlte mehr ihre Wucht, als dass sie ihre Bedeutung verstand. Doch am Ende dieses Wutausbruches dämmerte es ihr, von welchem Geröll Anja da sprach.
„Nein“, flüsterte Alma mit heiserer Stimme, „nein, das war ganz anders, Anja, ganz anders.“
Sie rang nach Luft, konnte nicht sofort weitersprechen.
„Ach ja?“, setzte Anja aufs Neue an, doch als sie ihre Mutter nach Luft ringen sah, verstummte sie.
Alma war verzweifelt. Sie hatte eine engere Verbindung zu Anja schaffen wollen und nun war aus ihrer Beichte ein solches Desaster geworden. Zumindest die Sache mit dem Bild musste sie klarstellen. Retten, was zu retten war. Und wenn es das Letzte war, was sie noch zu sagen hatte auf dieser Welt.
Mit einer schwachen Handbewegung winkte sie Anja zu sich heran. Unwillig trat das Mädchen wieder näher. Alma roch leicht süßlich, als hätte der Tod schon von ihr Besitz ergriffen. Es ekelte Anja an, doch sie zwang sich, nicht zurückzuweichen.
„Vor deiner Geburt ging es mir schrecklich, ich hatte solche Angst, dass ich es eurem Vater gestehen muss, dass du nicht seine leibliche Tochter bist“, flüsterte Alma, „aber zunächst warst du ein Baby wie jedes andere. Du hattest einige dunkle Haare auf dem Kopf, doch die hatte Almuth auch gehabt. Trotzdem weinte ich nach der Geburt häufig, ich war so unsicher, ob ich mit so einem Geheimnis würde leben können. Dein Vater ...“
„Er ist nicht mein Vater!“, fuhr Anja dazwischen, doch Alma blieb dabei.
„Dein Vater verstand das natürlich nicht. Dachte ich zumindest. Er wirkte auch verunsichert. Es war die schlimmste Zeit, die wir je hatten. Selbst als ich die Affäre hatte, haben wir uns gut verstanden, aber auf einmal war alles schwierig ...“ Almas Stimme war immer leiser geworden, bis sie ganz erstarb. Doch jetzt wollte Anja wissen, was ihre Mutter ihr so dringend zu sagen hatte, und verharrte in gespannter Stille. Nach einer Weile sprach Alma weiter.
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