Michael hatte Marcella ausreden lassen, doch das geschah wohl nur aus Höflichkeit, da weder an seiner Mimik noch an seiner Körperhaltung zu erkennen war, ob etwas von dem, was sie sagte, zu ihm durchdrang und ihn in seinem Innersten berührte. Stattdessen wirkte er so unnahbar wie ein Pflasterstein.
»Hör zu, Hexe !«, sagte er und ließ das Wort Hexe wie ein Schimpfwort klingen. »Selbst wenn ein Körnchen Wahrheit in dem stecken sollte, was du sagtest, kann ich dennoch nichts für jemanden wie dich empfinden, da du zu denen gehörst, die der Menschheit Schaden zufügen und sie ins Verderben stürzen wollen. Als ich vom Papst zum Inquisitor ernannt wurde, schwor ich, die Menschheit zu beschützen und dich und deinesgleichen gnadenlos zu bekämpfen. Diesen Schwur leistete ich vor Gott und kann ihn somit nicht brechen, ohne das Heil meiner eigenen unsterblichen Seele zu riskieren. Spar dir also gefälligst deine erbärmlichen Beteuerungen und Ausflüchte, da diese bei mir ohnehin auf taube Ohren stoßen. Erzähl mir lieber von den Dingen, die ich von dir wissen will.«
Marcella seufzte lang und laut und senkte den Blick. Ihre Angriffslust schien aus ihr heraus und in den Erdboden zu sickern. Sie sackte sichtbar in sich zusammen, als würde alle Kampfeslust und jede Widerstandskraft in ihr ersterben. Es waren mehr als deutliche Anzeichen, dass sie resigniert hatte und sich ihrem Schicksal – wie immer dieses aussah – ergab. Scheinbar hatte sie erkannt, dass sie den Inquisitor mit Worten allein nicht von der Wahrhaftigkeit ihrer Empfindungen überzeugen konnte. Ihre Gesichtszüge verhärteten sich, als sie einen folgenschweren Entschluss fasste, der nicht nur sie betraf, sondern auch den Mann, den sie zu lieben behauptete. Sie hob den Blick und richtete ihn auf den Inquisitor, der noch immer mit der Pistole auf sie zielte, obwohl sie alles andere als eine Bedrohung für ihn darstellte. Ihre Augen füllten sich mit neuer Lebhaftigkeit und funkelten in finsterer, nahezu tödlicher Entschlossenheit.
»Es tut mir aufrichtig leid, Michael,« sagte sie. »Aber ich kann dir nichts von dem erzählen, was ich weiß. Töte mich, wenn du der Meinung bist, dadurch das Richtige zu tun! Aber glaub mir: Eines Tages wirst du erkennen, dass ich die Wahrheit gesagt habe. Und dann wird das, was du mir antust, auf dich selbst zurückfallen. Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet! Steht das nicht in eurem heiligen Buch, der Bibel?«
»Schweig, Hexe!«, befahl der Inquisitor mit donnernder Stimme, aber gerade die Vehemenz seiner Reaktion ließ erkennen, dass ihre Worte ihn nun doch erreicht und getroffen hatten. Allerdings schien er es dem Keim der Unsicherheit, den sie gesät hatte, nicht zu erlauben, in seinem Gewissen Wurzeln zu bilden und zu wachsen, sondern jegliche Bedenken, er könnte das Falsche tun, wie eine lästige Fliege abzuschütteln.
» Aber die Zauberinnen sollst du nicht leben lassen! Das steht ebenfalls in der Heiligen Schrift, die jemand wie du nicht lästern, ja nicht einmal ungestraft zitieren sollte. Überleg es dir daher noch einmal gut, ob du dein Schweigen aufrechterhalten willst. Denn wenn du mir wirklich nicht verraten willst, in wessen Auftrag du mich nach Rom gebracht und die ganze Zeit über getäuscht hast und was in Wahrheit hinter all diesen Aktivitäten steckt, hast du für mich bedauerlicherweise keinen weiteren Nutzen mehr. Unter normalen Umständen würde ich dich der hiesigen Inquisition übergeben, aber da ich dank eurer Bemühungen und deiner tatkräftigen Hilfe von meinen Kollegen zur Persona non grata erklärt wurde, ist das zurzeit leider nicht möglich. Mitnehmen kann ich dich natürlich auch nicht, da ich eine wichtige Verabredung in der Vatikanstadt habe, die ich nicht aufschieben kann. Abgesehen davon, dass du ohnehin ein Klotz am Bein wärst, kannst du das Zentrum der christlichen Welt wegen der schützenden Banner gar nicht betreten, ohne wie eine Grillkartoffel geröstet zu werden. Was soll ich also mit dir tun?« Der Inquisitor machte eine kleine Pause, als würde er sorgfältig nachdenken, und sah bedeutungsvoll auf die Pistole in seiner Hand, bevor er fortfuhr: »Ich gebe dir noch eine letzte Chance. Sprich endlich, um Himmels willen! Wenn du mich wahrhaft liebst, wie du behauptest, dann hilf mir und sag mir endlich, was ich wissen muss! Wenn ich nicht weiß, was meine Feinde planen, renne ich möglicherweise ins Verderben. Also rede endlich!«
»Ich liebe dich wirklich, Michael. Von ganzem Herzen, auch wenn es dir schwerfällt, das zu glauben. Aber genau deshalb, weil ich dich so sehr liebe, muss ich nun schweigen, auch wenn es mir beinahe das Herz zerreißt. Doch es geht nicht anders. Also tu, was du glaubst, tun zu müssen, aber lass es uns wenigstens rasch beenden!«
Michael musste angesichts dieser Worte sichtlich schlucken. Trotz des nachvollziehbar schlechten Images seines Berufsstandes in Luziferianerkreisen war er alles andere als ein kaltblütiger Killer. Doch offenbar konnte er nicht anders handeln, weil die Situation es erforderte und er letztendlich zu dem konditioniert worden war, was als Nächstes geschah.
»Dann bleibt mir wirklich nichts anderes übrig, Marcella. Ich wünschte, wir hätten uns unter anderen Vorzeichen kennengelernt. Ich kann nur noch einmal wiederholen, dass es mir leidtut, doch du lässt mir gar keine andere Wahl.«
»Man hat immer die Wahl, Michael. Erinnere dich an diese Worte: Man hat immer die Wahl! « Marcellas eindringliche Worte wirkten wie ein Versprechen und schienen unterschwellig noch eine tiefere Bedeutung zu haben, die aber allenfalls von ihr und dem Inquisitor, nicht aber von dem heimlichen Beobachter richtig interpretiert werden konnte. Dann verstummte die Hexe und schloss schicksalsergeben die Augen vor dem Kommenden.
Michael zögerte. Die Hand mit der Waffe, die sonst so ruhig ihr Werk verrichtete, zitterte deutlich erkennbar. Für einen Moment sah es so aus, als würde sie langsam nach unten sinken, weil das Gewicht der Waffe immer größer wurde – zu groß, um sie noch länger in der Waagerechten zu halten und die Mündung auf die wehrlose Frau am Ufer des Tiber zu richten. Doch dann trat erneut der entschlossene Ausdruck in seine Augen. Alle Bedenken wurden beiseite gewischt, und die gewohnte Kompromisslosigkeit und Härte im Kampf gegen das Böse kehrten zurück. Mit nun wieder ruhiger Hand richtete er die Mündung der Pistole auf das Herz der Hexe – denn trotz allem würde er es wohl nicht über sich bringen, ihr in den Kopf zu schießen und sie dadurch über den Tod hinaus zu verunstalten – und drückte ein einziges Mal ab.
Marcella schrie schmerzerfüllt, als die Kugel sie traf, und griff sich an die Brust. Karmesinrotes, sauerstoffreiches Arterienblut quoll zwischen ihren zitternden Fingern hervor, lief über ihren Handrücken und färbte den Stoff ihrer Bluse dunkel. Das Projektil hatte sie mit der Wucht eines Fausthiebes getroffen und ließ sie nach hinten taumeln. Sie balancierte am Rand des Ufers, und es sah aus, als könnte sie das Gleichgewicht halten. Doch da trat ein Fuß ins Leere. Ihr Schrei war verstummt. So stürzte sie lautlos, Mund und Augen vor Entsetzen und Qual weit aufgerissen, nach hinten und fiel rücklings in den Fluss, sodass das Wasser klatschend aufspritzte und anschließend über ihr zusammenschlug.
Der Inquisitor ließ die Pistole sinken, als könnte er ihr enormes Gewicht nicht länger halten. Er wirkte wie betäubt, als wäre er fassungslos über das, was er getan hatte, und als hätte er bis zuletzt selbst nicht daran geglaubt, dass er tatsächlich dazu fähig wäre.
Er stürzte nach vorn, zum Rand des Uferstreifens, und blickte nach unten ins Wasser. Es war sogar für den heimlichen Beobachter zu dunkel, um Einzelheiten erkennen zu können, doch für den Bruchteil eines Augenblicks war die leblose Gestalt der Hexe zu erkennen, die wie schwerelos im Wasser trieb und langsam tiefer in den dunklen Wogen versank. Ihre Arme waren wie bei einem schwebenden Engel ausgebreitet, ihr langes Haar bildete einen wogenden Kranz um ihren Kopf, und ihre Augen waren weit aufgerissen und starrten zu ihrem Mörder empor. Ein Versprechen schien in diesen Augen zu stehen, doch ehe es entschlüsselt werden konnte, rissen die Fluten des Tiber den Leichnam mit sich in die Finsternis. Es war vorbei! Marcella Perini war verschwunden, und nur noch das dunkle, rasch dahinströmende Wasser war zu sehen.
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