Wolfgangs Herzschlag setzte aus. Erwischt! , dachte er erschrocken, ehe er realisierte, dass es sich nicht um einen Menschen, sondern um einen Hund handelte, der dort oben stand und ihn ansah. Wolfgang erkannte, dass es ein Schäferhund war und sich das Nackenfell des Tiers aufgerichtet hatte. Als Gestaltwandler, der oft selbst in tierischer Erscheinung unterwegs war, wusste er die Signale eines bevorstehenden Angriffs zu deuten. Dennoch war er nicht beunruhigt, sondern froh, dass es nicht der Inquisitor war, der ihn entdeckt hatte. Ein Haustier machte ihm deutlich weniger Sorgen, und daher entspannte er sich wieder ein wenig.
Obwohl es da, wo sich Wolfgang gegen die kühle Mauer der Tiberbrücke presste, stockfinster war und ein Mensch ihn nicht ohne Weiteres entdeckt hätte, witterte ihn der Hund. Er knurrte aggressiv, zog die Lefzen zurück und entblößte seine spitzen Reißzähne.
Tiere, speziell Hunde, reagierten sehr unterschiedlich auf Gestaltwandlers. Entweder nahmen sie Reißaus, weil sie die Bestie unter der menschlichen Schale und ihre eigene Unterlegenheit instinktiv erkannten, oder sie gingen zum Angriff über, als wollten sie sich mit einem Rivalen in ihrem Revier messen. Manch dämlicher Köter der zweiten Kategorie hatte zu spät erkannt, dass er sich mit einem Wesen anlegte, das ein paar Nummern zu groß für ihn war, und seinen Übermut mit dem Leben bezahlt.
Von der Brücke war die Stimme eines Mannes zu hören. Er rief ein paar Worte in italienischer Sprache, die Wolfgang nicht verstehen konnte. Er konnte aber den Rauch einer brennenden Zigarette riechen. Es war also nur jemand, der seinen Hund Gassi führte, weil dieser mitten in der Nacht ein dringendes Bedürfnis verspürt hatte, und die Gelegenheit nutzte, eine Zigarette zu rauchen.
Der Hund knurrte erneut, lauter und eindringlicher dieses Mal. Die Lefzen waren jetzt ganz hochgezogen, sodass eine Reihe spitzer Zähne sichtbar war. Der Schäferhund machte einen weiteren zögerlichen Schritt in Wolfgangs Richtung, ohne allerdings die Treppe zu betreten, und duckte sich zum Sprung.
Trotz dieser Anzeichen, dass der Köter ihn attackieren wollte, blieb Wolfgang ruhig und gelassen. Immerhin hatte er mit dem Auftauchen des Inquisitors gerechnet, der tatsächlich in der Lage gewesen wäre, ihn in ernsthafte Schwierigkeiten zu bringen. Institoris hatte mittlerweile Marcella als Hexe identifiziert und erledigt. Möglicherweise verdächtigte er jetzt auch Wolfgang, nicht der zu sein, der er zu sein vorgab, sondern ebenfalls zu den Luziferianern zu gehören. Vor allem, wenn er realisierte, dass Wolfgang ihm und der Hexe heimlich hierher gefolgt war.
Doch vor einem Hund – egal, welcher Größe oder Rasse – hatte er keine Angst. Er hätte dem Schäferhund in seiner tierischen Gestalt rasch und lautlos das Genick brechen oder den Kopf abreißen können, doch er wollte kein Aufsehen erregen. Wenn der Hundehalter anschließend nach seinem Köter suchte, musste er diesen auch noch erledigen. Und wer wusste schon, was danach noch alles kam? Besser, er wählte eine elegantere, aber ebenso effektive Methode, das Tier rasch loszuwerden. Also ließ er die Bestie in seinem Inneren ein wenig von der Leine – gerade so viel, dass die Fänge in seinem Mund wuchsen und sein Kehlkopf und die Stimmbänder sich veränderten. Anschließend stieß er ein leises Knurren aus, welches das des Tieres in puncto Aggressivität und Bösartigkeit weit in den Schatten stellte, aber nicht so laut war, dass es von dessen Herrchen gehört werden konnte. Der Mann auf der Brücke rief erneut nach seinem Hund, nun schon wesentlich lauter. Allmählich wurde er wohl ungeduldig.
Der Schäferhund jaulte auf, als er erkannte, mit was er es hier zu tun hatte und dass es besser war, sich nicht mit dieser Kreatur anzulegen. Er warf sich herum und rannte davon, den Schwanz zwischen die Hinterläufe geklemmt. Der Mann auf der Brücke sagte etwas und lachte, als der Hund an ihm vorbeijagte. Doch als das Tier nicht anhielt, sondern immer weiter und weiter rannte, wurde er ärgerlich und rief seinem Hund laut hinterher. Schließlich hörte Wolfgang die eiligen Schritte des Mannes auf dem Beton der Brücke, als er seinem Hund hinterherrannte.
Wolfgang lachte leise und kehlig über diese Episode, was aufgrund seiner körperlichen Veränderung wie ein tierisches Knurren klang, bevor er die Bestie wieder zurückdrängte. Doch sein tierisches Selbst sträubte sich. Es wollte losgelassen werden, auf vier anstatt auf zwei Beinen durch die Nacht rennen, im Mondlicht baden und fühlen, wie die frische Nachtluft durch sein dichtes Fell strich. Und vor allem wollte es Beute jagen, stellen und töten, anschließend das noch zuckende Fleisch zerreißen und das warme Blut kosten. Doch dies war weder die rechte Zeit noch der rechte Ort dafür. Deshalb blieb Wolfgangs menschliche, von seiner Vernunft gesteuerte Seite unerbittlich und schließlich erfolgreich. Das Tier knurrte noch einmal verärgert, kroch aber widerstrebend in seine menschliche Hülle zurück.
Erst als Wolfgang wieder vollständig Mensch war – zumindest äußerlich! –, hob er das Mobiltelefon ans Ohr. »Butcher, bist du noch dran?« Auch wenn der nächtliche Spaziergänger mitsamt seinem Hund weg war, flüsterte Wolfgang weiterhin. Das Mikrofon des Handys war empfindlich genug, seine Worte trotzdem aufzufangen und klar und deutlich an den Teilnehmer am anderen Ende der Leitung zu übermitteln.
»Natürlich«, kam postwendend die knurrige Antwort. »Was war denn los bei dir? Ich hörte ein Knurren. Gab’s Ärger?«
»Nicht wirklich. Nur ein neugieriger Köter, den ich davonjagen musste. Wo waren wir stehen geblieben?«
Das Tier in Wolfgangs Innerem empfand noch immer stillen Triumph darüber, den Hund, den es als minderwertig ansah, davongejagt zu haben. Und Wolfgang überlegte, dass die Begegnung auch einen positiven Nebeneffekt hatte, da er sich dadurch sicher sein konnte, dass der Inquisitor nicht mehr in der Nähe war. Andernfalls hätten Hund und Herrchen ihm dort oben begegnen und auf seine Anwesenheit reagieren müssen. Vermutlich hätte der Hund Institoris angebellt und wäre nicht auf Wolfgangs Versteck aufmerksam geworden.
»Ich wollte wissen, was mit der Hexe geschehen ist und wie es dem Hexenjäger geht«, rief Butcher seinem Untergebenen in Erinnerung.
»Richtig. Du wirst es nicht glauben, aber es war der Inquisitor, der die Hexe tötete. Er muss – vermutlich während der Flucht vor seinen Kollegen aus Neros Villa – herausgefunden haben, dass sie in Wirklichkeit zu uns gehört und ihn die ganze Zeit über getäuscht hat. Er brachte sie ans Ufer des Tiber und erschoss sie dort vor meinen Augen.«
Kurzzeitig herrschte am anderen Ende der Verbindung tiefes Schweigen, als hätte diese Nachricht Butcher tatsächlich überrascht und ihm die Sprache verschlagen. Falls dem so war, dann aber nur kurz. »Hat sie ihm vorher etwas von den Dingen verraten, die sie wusste?«, fragte Butcher und sprach gezielt den Punkt an, der für ihn und seine Pläne von entscheidender Bedeutung war. Das Schicksal der Hexe war demgegenüber nachrangig.
»Nein, kein Wort. Sie beteuerte mehrere Male, dass sie ihn lieben würde. Deshalb wunderte es mich, dass sie ihm nicht alles brühwarm erzählte. Aber sie blieb standhaft bis zum Ende, faselte nur etwas davon, dass sie ihm nichts sagen könne, weil sie ihn liebt. Irgend so ein Scheiß eben, den Verliebte und andere Bekloppte normalerweise von sich geben. Keine Ahnung, was sie damit meinte.«
»Marcellas Tod ist nicht beklagenswert«, sagte Butcher. »Sie war eine Zeit lang sehr nützlich, weil sie Einfluss auf den Inquisitor nehmen und ihn in unserem Sinne lenken konnte, doch insgeheim hegte ich längst Zweifel an ihrer Zuverlässigkeit. Ihre Beteuerungen – sogar im Angesicht des bevorstehenden Todes –, sie würde den Hexenjäger lieben, überzeugen mich jetzt zumindest davon, dass ich mit meinen Befürchtungen nicht ganz unrecht hatte. Sie wäre in Kürze ohnehin beseitigt worden. Nero wollte sie für sich haben und mit ihrem Leichnam die Schauspielerin ersetzen, die er vor Jahren zum Zombie machte, derer er aber mittlerweile überdrüssig war. Nachdem Nero den Angriff der Inquisition wohl nicht überlebte, hätten wir uns für Marcella sowieso eine andere Lösung einfallen lassen müssen. Das können wir uns jetzt sparen. Allerdings wäre es mir lieber gewesen, sie hätte vor ihrem Ableben noch dafür gesorgt, dass der Hexenjäger seine Verabredung an der Vatikanpforte tatsächlich einhält. Wo befindet sich ihre Leiche jetzt?«
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