Der Inquisitor schloss die Augen. Seine Lippen bebten, als er ihren Namen flüsterte oder stumm ein kurzes Gebet sprach – wenn, dann nicht nur für die verdammte Seele der Hexe, sondern zweifellos auch, um für sich selbst und seine Tat um Vergebung zu bitten. Er fröstelte und zog die Schultern hoch, als ihm bewusst zu werden schien, dass er in dieser fremden Stadt mutterseelenallein war, jetzt sogar von dem letzten Menschen verlassen, von dem er geglaubt hatte, er könnte ihm vertrauen. Er zitterte leicht, als ein kühler Windstoß vom Fluss heranwehte und einen seufzenden Laut erzeugte, der sich anhörte wie das Stöhnen einer Toten. Erneut fröstelte er. Allein! Das Wort schien anklagend von den Wänden der Brücke widerzuhallen und ihn dadurch noch mehr zu quälen.
Doch stimmte das? War er tatsächlich allein?
Ein Knirschen auf der Treppe, die nach oben führte, ließ den Inquisitor herumwirbeln.
Mit einer Mischung aus Faszination und Fassungslosigkeit hatte Wolfgang mit angesehen, wie der Inquisitor die Hexe erschossen hatte und die Frau daraufhin ins Wasser gefallen und untergegangen war. Er hatte mehr als genug gesehen und wollte verschwinden, bevor der Inquisitor sich besann und wieder diesen Weg nach oben zur Straße nahm.
Er wandte sich um und eilte die Stufen nach oben, so rasch und lautlos, wie es die Umstände und die eingeschränkten Sichtverhältnisse zuließen. Seine Augen hatten genug Zeit gehabt, sich der Finsternis anzupassen, und die überlegene Nachtsichtigkeit der Bestie in seinem Inneren half ihm zusätzlich, sich zurechtzufinden, ohne zu straucheln. Doch nach wenigen Stufen übersah er in seiner Eile einen unscheinbaren, kieselsteingroßen Gegenstand, der unter seiner Sohle leise knirschte. Das Geräusch wäre tagsüber im Umgebungslärm untergegangen und nicht zu hören gewesen, doch in der Stille der Nacht, die nur vom stetigen, flüsternden Rauschen des Flusses im Hintergrund durchbrochen wurde, wurde das schabende Geräusch weit getragen und musste auch dem Inquisitor zu Ohren gekommen sein.
Entgegen seiner Gewohnheit fluchte Wolfgang jetzt doch lautlos und rannte los, ohne sich noch länger darum zu kümmern, wie viel Lärm er dabei verursachte. Zum zweiten Mal in dieser Nacht war Schnelligkeit entscheidender als Lautlosigkeit, da es darauf ankam, dass der Inquisitor seinen heimlichen Verfolger nicht entdeckte und Wolfgang rasch ein Versteck fand, in dem er sich vor Institoris verbergen konnte.
Erst als Wolfgang die obersten Stufen erreichte, die vom Licht der Straßenbeleuchtung erhellt wurden, wagte er es, einen Blick über die Schulter zu werfen und nach unten zu sehen. Doch vom Inquisitor war nichts zu sehen. Die Finsternis war wieder wie eine Wand, die er nicht mit Blicken durchdringen konnte und in der sich alles Mögliche verbergen konnte. Gut so! , dachte Wolfgang, zufrieden über seinen Vorsprung, und hetzte weiter. Nachdem er die Stufen hinter sich gelassen hatte, sah er sich fieberhaft um und suchte in unmittelbarer Nähe nach einem geeigneten Versteck. Doch in dieser Gegend gab es keine Büsche oder Bäume, hinter denen er sich verbergen konnte. Er rannte zur Straße, die über die Brücke führte, und überquerte sie, um auf die andere Seite der Brückenzufahrt zu gelangen, da ihm eingefallen war, dass sich auch dort ein Abstieg zum Fluss befinden musste. Als er die Böschung erreichte, sah er sich bestätigt, doch ehe er die Stufen nach unten stieg, blickte er noch einmal zurück.
Der Inquisitor war noch nicht auf der anderen Seite aufgetaucht, aber gewiss würde es nicht mehr lange dauern, bis er kam. Deshalb durfte Wolfgang nicht länger zögern, wollte er unentdeckt bleiben, und rannte die Treppe nach unten. Erst nach einem guten Dutzend Stufen kam er zum Stehen. Fast wäre er gestrauchelt, doch es gelang ihm, sich mit der linken Hand an der Wand neben sich festzuhalten. Schwer atmend blieb er stehen und schnappte nach Luft. Gleichzeitig bemühte er sich, zu lauschen, um gegebenenfalls die Schritte des anderen Mannes hören zu können. Doch er konnte nichts Derartiges wahrnehmen, da sein eigenes Schnaufen und das Pochen seines hämmernden Pulsschlags in den Ohren zu laut waren und jedes andere Geräusch übertönten.
Wolfgang ging davon aus, dass der Inquisitor mittlerweile ebenfalls das Niveau der Straße erreicht hatte. In seiner Fantasie malte er sich aus, wie Institoris sich in alle Richtungen umsah. Als er nichts Verdächtiges bemerkte, kam er unweigerlich zu dem Schluss, dass niemand in der Nähe gewesen sein konnte. Möglicherweise dachte der Inquisitor, dass das Knirschen einen anderen Grund haben musste und vielleicht von einem nachtaktiven Tier stammte. Vor Wolfgangs innerem Auge zuckte Institoris mit den Schultern und ging eilig davon, weg vom Tatort seines feigen Mordes, um seine Verabredung mit dem Gardisten an der Pforte der Vatikanstadt nicht zu versäumen.
Wolfgang konnte dem Inquisitor jetzt natürlich nicht länger auf den Fersen bleiben, aber das war ohnehin nicht notwendig, da er wusste, wohin der Mann unterwegs war. Er musste sich nur dort auf die Lauer legen und beobachten, wie Institoris in den Vatikan gelassen wurde. Alles andere ging ihn nichts mehr an, und folgen konnte er ihm dorthin eh nicht.
Mit jeder verstreichenden Sekunde beruhigten sich Wolfgangs Erregung, Atmung und Herzschlag immer mehr. Offensichtlich war er noch einmal davongekommen.
Nachdem die Aufregung sich gelegt und er eine Atempause gewonnen hatte, war es Zeit für einen weiteren nächtlichen Anruf bei Butcher, entschied Wolfgang. Der Rudelführer würde über die erneute Störung seiner Nachtruhe sicherlich ebenso wenig erfreut sein wie beim ersten Mal, aber über die neueste Entwicklung der Dinge wollte er andererseits sicherlich sofort informiert werden.
Wolfgang postierte sich so, dass er die nach oben führenden Stufen und den oberen Treppenabsatz weiterhin im Auge behalten konnte, und lehnte sich mit der Schulter gegen die kühlen Steine der Seitenwand. Er holte sein Handy aus der Hosentasche und gab Butchers Nummer ein. Schon nach dem ersten Rufzeichen wurde abgenommen. Anscheinend hatte Butcher nicht geschlafen. Entweder war er nach Wolfgangs erstem Anruf nicht wieder zu Bett gegangen, oder er war schon wieder wach, weil er in Kürze ebenfalls in Richtung Vatikanstadt aufbrechen wollte, um sich dort mit eigenen Augen davon zu überzeugen, dass alles nach Plan verlief. Butcher war eben ein Perfektionist. Wolfgang überraschte es daher nicht, dass er alles zusätzlich persönlich kontrollierte, obwohl er genügend Handlanger hatte, die derartige Dinge für ihn erledigten.
»Wolfgang? Du schon wieder? Was gibt es denn diesmal? Ich hoffe, du hast keine weiteren schlechten Nachrichten für mich.«
»Wie man’s nimmt«, erwiderte Wolfgang und verzichtete wohlweislich darauf, seinen Rudelführer auf die Folter zu spannen, sondern ließ die Katze sofort aus dem Sack: »Die Hexe ist tot!«
»Die Hexe ist …«, wiederholte Butcher wie ein grollendes Echo, vollendete den Satz aber nicht. »Du sprichst von Marcella? Bist du dir sicher?«
Wolfgang nickte heftig, auch wenn Butcher ihn nicht sehen konnte. »Ja. Kein Zweifel. Ich hab’s mit eigenen Augen gesehen.«
»Wie konnte das passieren? Haben die Inquisitoren die beiden verfolgen können und erwischt? Und was ist mit dem Hexenjäger, ist er wohlauf?«
»Ja, es …« Wolfgang verstummte und versteifte sich unwillkürlich, da er von oben ein Geräusch gehört hatte. Er lauschte angestrengt, ob es sich wiederholte.
»Wolfgang, was ist los? Bist du noch dran?«, drang Butchers knurrige Stimme aus dem winzigen Lautsprecher des Mobiltelefons.
»Einen Moment«, flüsterte Wolfgang und legte die Hand auf das Gerät, um jeden Laut zu dämpfen.
Er horchte mit höchster Konzentration und spähte aus zusammengekniffenen Augen nach oben. Da tauchte am oberen Ende der Treppe ein dunkler Umriss auf. Augen, die im Mondlicht glitzerten, starrten zu ihm herunter.
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