„Oh mein Gott, was habt Ihr vor?“, fragte Finea entsetzt.
„Tu, was ich dir sage!“, fuhr ihre Meisterin sie an. Dann nahm sie das glühende Metall und presste es, zum Entsetzen ihrer Schülerin, auf die Innenseite des kleinen Kindschenkels. Einem zischenden Geräusch folgte der üble Geruch von verbranntem Fleisch. Zum Glück schien die Betäubung zu wirken, denn der Kleine verzog nur kurz das Mündchen.
„Die Schmerzsalbe, schnell!“, kam nun die nächste Anweisung.
Auch dieser kam Finea unverzüglich nach. Sorgfältig bestrich Sina die Wunde des Babys und verband sie mit einem sauberen Tuch. Dann griff sie nach dem Korb, den sie bei ihrer Ankunft dabeigehabt hatte. An dessen Henkel befestigte sie eilig ein Seil, legte das noch immer schlafende Kind hinein und ging zu dem Fenster, an dem sie zuvor die Kerze geschwenkt hatte. Nachdem der Knabe sorgfältig zugedeckt war, öffnete sie es und blickte kurz hinaus. Sie gab jemandem, der für Finea unsichtbar blieb, ein Zeichen und ließ den Korb hinab. Wenig später holte sie ihn wieder hinauf. Darin lag ebenfalls ein Neugeborenes, das sie jetzt neben die Königin bettete. Danach schloss sie das Fenster und rang sichtbar um Ruhe.
Finea stand schon geraume Zeit mit offenem Mund da und beobachtete fassungslos das Geschehen. „Was habt Ihr getan?“, entfuhr es ihr.
Doch Sina gebot ihr mit einer eindeutigen Handbewegung zu schweigen. „Ich schwöre, es ist für alle zum Besten! Niemand darf wissen, dass Ismee einem Sohn das Leben geschenkt hat! Nicht einmal sie selbst. - Hast du das verstanden?“
Finea nickte mit gefurchter Stirn und Sina nahm es dankbar zur Kenntnis. „Gut! Ich werde dir so bald wie möglich alles erklären. Aber nicht hier.“ Sie wischte sich den Schweiß vom Gesicht. „So, nun lass uns die Dienerschaft rufen, damit sie uns dabei helfen, die Königin zu waschen und ihr Lager neu herzurichten!“ Sina kehrte zu ihrer alten Verfassung zurück. Sie strich sich das Haar aus der Stirn und ging zur Tür.
Etwas später lag Ismee erfrischt, und schon nicht mehr ganz so bleich, in den sauberen Kissen und betrachtete müde lächelnd 'ihre' Tochter.
„Ein wunderschönes, gesundes Mädchen, Eure Hoheit!“, gratulierte Sina.
„Ja, das ist sie“, flüsterte Ismee. „Auch wenn ich Ammon gern einen Sohn geschenkt hätte, der sein Erbe antreten könnte ...“, fügte sie bitter hinzu. „Ich werde sie Lina nennen.“ Zärtlich strich sie der Kleinen über die rosigen Wangen und gab ihr einen Kuss auf die Stirn. Dann verließen sie ihre Kräfte wieder. Schon bald waren ihr die Augen zugefallen und am gleichmäßigen Heben und Senken des Brustkorbes erkannten die Wächterinnen, dass Ismee schlief.
„Ich werde jetzt aufbrechen und zum Tempel zurückkehren. Du bleibst so lange hier, bis die Königin das Bett dauerhaft verlassen kann“, gab Sina der Jüngeren ihre letzte Anweisung für heute. Sie trat auf die junge Wächterin zu, nahm sie in ihre Arme und flüsterte. „Keine Sorge, wir haben nichts Unrechtes getan. Eines Tages wird sie die Wahrheit erfahren und unser Handeln verstehen. Das verspreche ich dir. Schlaf jetzt etwas!“ Mit diesen Worten ließ sie die völlig aufgewühlte Finea allein zurück.
Die ging zum Bett und nahm das Kind auf ihren Arm. Zärtlich streichelte sie es und trug es zu seiner Wiege, die man vor einiger Zeit hier aufgestellt hatte. Eine Weile noch sah sie dem kleinen Mädchen beim Schlafen zu. Nach einem prüfenden Blick auf die Königin begab sie sich zu dem Sessel, der in einer Ecke des Raumes stand, und ließ sich darin nieder.
„Wacht auf, Herr!“ Wie durch dichten Nebel drang Kamirs Stimme an Arkos Ohr. Mühsam öffnete er die schweren Lider und blickte dem Jungen direkt in die schwarzbraunen Augen. Dieser hatte sich dicht über den noch immer fiebernden Gefangenen gebeugt und sah ihn besorgt an. „Mein Herr schickt mich. Prinz Farid möchte, dass ich mich um Euch kümmere.“
„Ach, hat er Sorge, dass er mich nicht gesund aufs Schafott zerren kann?“, fragte Arko voller Häme.
Der Junge gab ihm darauf keine Antwort, sondern machte sich daran, ihn zu entkleiden und zu waschen. Arko war es gleich und er ließ ihn gewähren. Nachdem er in sauberen Kleidern steckte und sein Lager neu hergerichtet war, machte sich Kamir daran, ihm Löffel für Löffel eines schleimigen Breis aufzuzwingen. Als Arko drohte, ihm das Zeug ins Gesicht zu spucken, wenn er auch nur noch einen Bissen davon zu sich nehmen müsse, sah dieser ihn verzweifelt an. „Der Medikus ist der Meinung, dass Euch der Brei wieder zu Kräften bringt und mein Herr macht mich dafür verantwortlich, wenn Ihr ihn nicht esst.“
Arko entging der ängstliche Unterton in Kamirs Stimme nicht und ihm tat der Junge leid. Ihm war mehr als einmal aufgefallen, dass der Bursche als Prellbock für gelegentliche Missstimmungen Farids herhalten musste. Immer wenn er den Freund dann darauf angesprochen hatte, lachte dieser nur und sagte: „Ach, er wird es überleben. Schließlich soll eines Tages ein echter Mann und guter Soldat aus ihm werden. Da ist es besser, wenn er sich schon früh daran gewöhnt, dass das Leben kein Zuckerwerk ist.“
Widerwillig öffnete Arko den Mund, bis auch der letzte Löffel geschafft war. „Sage dem Pfuscher von Medikus einen Gruß von mir. Wenn er mir das Zeug noch einmal aufzwingen lässt, werde ich ihn persönlich umbringen, sobald ich meine Kräfte zurückhabe.“ Mehr zu sich selbst fügte er leise hinzu: „Dann habe ich wenigstens wirklich einen Mord begangen und weiß, wofür ich meinen Kopf verliere.“
Doch im Moment sah es nicht danach aus, als würde der Brei seinen Körper stärken. Er fühlte sich so elend wie zuvor. Trotzdem zwang er sich zu einem Lächeln und dankte dem Jungen für seine Hilfe, bevor der sich mit einer kurzen Verbeugung zurückzog.
Nachdem er eine ganze Weile geschlafen hatte, glaubte Arko, eine leichte Verbesserung seines Zustandes festzustellen, doch noch bevor er sich näher damit auseinandersetzen konnte, traten zwei Soldaten in sein Zelt und legten ihm wieder Fesseln an.
„Oh, sind meine erleichterten Haftumstände schon wieder vorüber?“, fragte er ironisch.
„Wir sind abmarschbereit! Der Kerker wartet. Dort habt Ihr es sicher kuschelig genug, bis man Euch den Prozess macht“, antwortete ihm der Ältere der beiden herablassend.
Arko nahm es hin und ließ sich von ihnen zu seiner braunen Stute bringen, die ihm, angebunden an ein anderes Pferd, mit gespitzten Ohren entgegensah. Man half ihm beim Aufsteigen und machte seine Fesseln am Sattel fest. Arko hatte keine Ahnung, wie er den langen Ritt nach Isfadah durchhalten sollte, aber es blieb ihm keine andere Wahl, als es zu versuchen. Während er sich umsah, wurde ihm bewusst, dass er zu den Letzten gehörte, die sich in den Sattel hievten. Ein paar Meter entfernt legte man eben Prinz Farid auf eine Trage, die nun in einem Planwagen verstaut wurde. Kurz trafen sich ihre Blicke, doch Arko konnte in den Augen des alten Freundes nichts ablesen, was ihn in irgendeiner Weise weitergebracht hätte. Er musste Geduld haben, so schwer es ihm auch fiel. Bei einem fairen Prozess musste schließlich ans Licht kommen, dass er unschuldig war. Und so wie es den Anschein hatte, würde ihm zumindest dieser gewährt werden.
Nach den Gesetzen des Landes würde der Thron an Farid gehen. Sollte Ismee einem Sohn das Leben schenken, dann wäre er trotzdem bis zu dessen Mündigkeit Regent. Arko zweifelte nicht daran, dass er ein guter Herrscher sein und das Reich in Ammons Sinne regieren würde. Er hatte immer in den wesentlichen Dingen mit seinem Bruder übereingestimmt. Arko würde bis zum letzten Atemzug seine Unschuld beteuern. Es war schlimm genug, dass die Umstände ihm die Chance nahmen, den Verlust seines Vetters gebührend zu betrauern. Er würde nicht zulassen, dass man ihm diesen schändlichen Mord anlastete. Erneut ließ er den Blick schweifen, um in den Gesichtern der Männer, die bis vor Kurzem noch zu ihm aufgesehen hatten, lesen zu können. Doch die einen sahen sofort weg, wenn sie sich seiner Aufmerksamkeit bewusst wurden, und die anderen schauten unverhohlen feindselig zurück. Daraus konnte er erneut nur eines schließen: Man war sich im Allgemeinen darüber einig, dass er schuldig war. Wieder stiegen Unruhe und auch Angst in ihm hoch. Er zwang sich gewaltsam dazu, diese Gefühle zu unterdrücken.
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