Ismee bemerkte die wachsende Geräuschkulisse bald und fragte nach deren Ursache.
Nachdem Finea es ihr erklärt hatte, ließ sich die junge Frau nicht davon abbringen, sich ankleiden und herrichten zu lassen. „Ich werde am Schlossportal stehen und meinem Mann die Ehre erweisen, wenn er zum letzten Mal heimkehrt. Und das will ich nicht im Nachtgewand tun“, sagte sie fest entschlossen. Finea versuchte erst gar nicht, ihr das auszureden.
Das Ergebnis war beeindruckend. Ismee sah zwar blass aus und Ringe zeichneten sich deutlich unter den großen mandelförmigen Augen ab, aber ihre Schönheit war ungebrochen. Sie befahl nach der Amme zu rufen, damit diese bei dem Kinde bliebe. Erhobenen Hauptes begab sich Ismee an Fineas Seite zum Schlossportal und sah kurz darauf dabei zu, wie die sterblichen Überreste ihres Mannes, an ihr vorbei, in den Thronsaal getragen wurden. Dort hatte sich bereits der gesamte Hofstaat versammelt. Die angesehensten Männer waren für die Totenwache eingeteilt. In zwei Tagen würde die Abschiedszeremonie stattfinden, bei der der Sarg öffentlich aufgestellt werden sollte, damit auch die treuen Untertanen ihrem toten König huldigen konnten.
Wortlos folgte Ismee der Prozession. Sobald man den Leichnam abgesetzt hatte, befahl sie, den Deckel zu heben.
Nach einem Blick auf die verunsicherten Männer, redete Finea ihr dieses Vorhaben aus. „Majestät, nehmt Abstand davon. Behaltet Euren Gemahl in Erinnerung, wie er war. Es ist einige Tage her ...“ Zu ihrer Erleichterung gab Ismee bald nach und alle atmeten auf.
„Lasst mich allein!“, befahl die Königin leise, aber bestimmt. Alle zogen sich zurück, doch Finea verharrte noch für einen Moment unschlüssig.
„Ihr auch, Wächterin!“, fügte die junge Witwe entschlossen an. Als sich die Blicke der beiden Frauen trafen und Ismee Fineas sorgenvolle Miene bemerkte, fügte sie hinzu: „Keine Sorge, ich bin stark genug. Ich möchte nur noch eine Weile mit meinem Mann allein sein und Abschied nehmen.“
„Wie Ihr wünscht, Hoheit“, lenkte Finea ein. „Aber ich werde draußen vor der Tür warten. Wenn Ihr mich braucht, ruft einfach.“ Dann verließ auch sie den Thronsaal.
Sorgenvoll nahm sie auf einem Stuhl in der Nähe der Tür Platz und spitzte die Ohren, um ja kein Geräusch zu überhören, das darauf schließen ließ, dass sie gebraucht wurde. Es kam ihr vor wie eine Ewigkeit, bis sich die schwere Eichentür endlich öffnete und Ismee mit rot unterlaufenen, geschwollenen Augen herauskam.
„Die Totenwache kann beginnen. Sagt den ausgewählten Männern Bescheid!“, wies sie einen Diener an. Dann wandte sie sich Finea zu. „Bitte bringt mich zurück in meine Gemächer!“, flüsterte sie mehr, als dass sie es sagte. Sie schwankte und Finea nahm schnell Ismees Arm, bevor ihr die geschwächte Frau noch zu Boden ging. Gemeinsam erklommen sie die breite Treppe, welche ins obere Stockwerk führte, wo sich auch die Privatgemächer der Königsfamilie befanden. Endlich dort angekommen, musste sich die Königin schnell hinlegen. Hier, in der Abgeschiedenheit ihres Zimmers, verließ sie ihre Stärke und gab Schmerz und Kummer freie Hand. Wimmernd wie ein kleines Kind rollte sich Ismee auf ihrem Bett zusammen. Finea blutete das Herz bei diesem Anblick. Voller Mitgefühl trat sie an die Unglückliche heran und setzte sich zu ihr. Sanft strich sie über das goldene Haar, so wie ihre Mutter es früher bei ihr getan hatte, wenn sie traurig war. Ismee drehte sich um und ließ sich in ihre Arme sinken. Langsam wiegte Finea die Trauernde hin und her, bis diese in einen leichten Schlaf fiel. Vorsichtig zog sie ihren Arm unter der Königin vor und sah nachdenklich auf sie hinab. Was würde nun aus Ismee werden? War sie eigentlich noch Königin? Ging ihr der Titel verloren, wenn in Kürze Prinz Farid den Thron bestieg? Finea hatte keine Ahnung von diesen Dingen. Und das war im Moment auch unwichtig! Vorsichtig lockerte sie die Verschnürung am Rücken der Schlafenden. Es konnte unmöglich bequem für sie sein, in diesem engen Korsett. Aber so sollte es gehen. Leise schlich Finea aus dem Raum, um nach der kleinen Prinzessin zu sehen, die ja strenggenommen gar keine war. Sie dachte über das Kommende nach. Vieles würde sich jetzt ändern. Manchmal hatte sie Träume, die ihr Hinweise oder eher Warnungen über künftige Ereignisse offenbarten. Zu gern hätte Finea jetzt die Fähigkeit besessen, gezielt in die Zukunft zu blicken, um zu erfahren, ob der rechtmäßige Erbe Isfadahs jemals hierher zurückkehren würde. Aber sie musste sich auf das Hier und Jetzt konzentrieren.
Das kleine Mädchen lag selig schlummernd in seiner Wiege.
„Wer bist du wirklich?“, fragte Finea leise und strich ihr mit dem Finger über die rosigen Wangen. Mit Sicherheit hatte dieses Kind sein Schicksal verbessert. Finea nahm an, dass es eine kleine Waise war. Niemals würde Sina einer anderen Frau ihr Kind rauben. Selbst dann nicht, wenn sie damit den Prinzen schützen wollte. Aber wovor musste sie ihn überhaupt schützen und wo war er jetzt? Finea konnte es kaum erwarten, Sinas Erklärung zu hören. Doch jetzt war es an der Zeit, die Gunst der Stunde zu nutzen, um selbst etwas Schlaf zu finden. Nach einem letzten prüfenden Blick auf Ismee legte sie sich ebenfalls zur Ruhe.
Aufmerksam betrachtete Arko seine neue Unterkunft. Natürlich war er nicht zum ersten Mal in den Mauern des Kerkers, doch in der Rolle des Gefangenen war das eine Premiere. Immerhin hatte man ihm eine Einzelzelle zugestanden, die auf Befehl von Farid mit neuem Stroh ausgelegt worden war. So gut er konnte, schichtete er es zu einem Haufen auf, um sich ein Lager herzurichten. Dann ließ er sich völlig entkräftet darauf nieder. Es stank erbärmlich. Wahrscheinlich kam das aus der Ecke, in der er die Exkremente seines Vorgängers vermutete. Aber das war ihm im Moment gleichgültig. Die lange Reise steckte ihm in dem eh schon geschwächten Körper und er fühlte sich hundeelend. Wenn das so weiterging, würde er seine eigene Hinrichtung nicht mehr erleben. Die Eisen um seine Fußgelenke waren auch nicht gerade als bequem zu bezeichnen. Schon jetzt, nach wenigen Stunden, bemerkte er wunde Stellen, wo die kalten Fesseln an seiner Haut scheuerten.
Plötzlich hörte er, wie das Gitter seiner Zelle geöffnet wurde. Ein Wächter trat ein und stellte ihm wortlos einen Teller mit Brot und etwas Käse, sowie einen Krug Wasser hin. Dann wollte er die Zelle wieder verlassen.
„Warte!“, bat Arko heiser. „Was ist mit Königin Ismee? Hat sie das Kind schon geboren? Ich muss dringend mit ihr sprechen! Bitte lass ihr eine Nachricht zukommen.“
Der Wachmann schüttelte mit dem Kopf. „Tut mir leid, aber es ist mir verboten, Euch irgendwelche Auskünfte zu geben.“
„Bitte! Richte es ihr aus. Sie kann selbst entscheiden, ob sie mir eine Chance gibt, mich zu erklären. Ich habe diese Tat nicht begangen! Ich schwöre es, bei meiner Seele!“
Der Mann lächelte ihn mitleidig an. „Wenn Ihr wüsstet, wie oft ich das hier schon gehört habe. Das Gericht wird entscheiden, was die Wahrheit ist. Wenn Ihr unschuldig seid, wird es schon ans Licht kommen.“
Arko sah ihm an, dass er seine letzten Worte selbst nicht glauben mochte, entschied sich aber, das Gespräch nicht weiter fortzuführen. Er würde wohl nichts weiter tun können, als zu warten. So war das Schicksal. Von der rechten Hand des Königs zum angeklagten Verbrecher war es manchmal nur ein kleiner Schritt.
Zwei Tage später vernahm er Stimmen vor seiner Zelle. Konnte das möglich sein? Langsam drehte er sich um, öffnete die Augen und sah direkt in das blasse Gesicht von Ismee. Neben ihr standen der Wärter und eine junge bildschöne Frau, deren Gewand darauf schließen ließ, dass sie eine Wächterin des Tempels war. Sein Blick suchte den Ismees.
„Du bist wirklich gekommen?“, krächzte er heiser.
Читать дальше