Ich haderte mit mir selbst, doch vielleicht war es besser, sie nicht mit dem zu belasten, was ich gesehen hatte. Hilflos zuckte ich mit meinen Schultern.
»Darf ich sie noch nach draußen begleiten?«, fragte die Frau, als ich mich zur Tür drehte. Ich nickte und folgte ihr zur Haustür.
»Danke«, sagte ich, als wir gemeinsam vor der Tür standen und begab mich, von der Kälte der Nacht umhüllt, zurück in die Straße, aus der ich gekommen war.
Der Glanz des Mondes wurde inzwischen von einzelnen Sternen am Himmel begleitet. Die Fischer im Hafen arbeiteten emsig und die ersten Boote fuhren bereits aufs offene Meer hinaus. Ich musste mich beeilen und schnell wieder zurück zur Scheune gelangen. Sobald die Preußen den Koffer zurückgebracht hätten, würde ich mich in die Kutsche legen und diese besser bewachen. Ich wollte meinen Meister niemals enttäuschen. Und morgen, morgen würden wir dann wohl weiterreisen und Reykjavík verlassen.
»Richten sie meiner Frau aus, dass ich mich ein wenig verspäte.« Mit diesen Worten drehte sich Erzherzog Franz Ferdinand zur Seite und eilte durch die erhabenen Hallen der königlichen Residenz. Die Wände schimmerten golden, verzierte Möbel befanden sich in dem großen Saal verteilt und wuchtige, lebensgroße Porträts zeigten die Ahnenreihe seiner Vorfahren.
Er wusste, was gleich passieren würde. Im Arbeitszimmer seines Onkels erwarteten ihn voller Ungeduld dessen engste Berater, vermutlich Personen des Geheimdienstes aus dem Deutschen Reich und andere Diplomaten. Sie würden debattieren, geheime Gespräche auswerten und ihm von seiner Reise abraten. Es war ihm nicht gleichgültig, was sie zu berichten hatten, und noch könnten sie versuchen, ihn hier zu halten – jedoch um welchen Preis?
Das Hauptthema in den Wiener Kaffeehäusern, in denen vornehme Damen mit gebildeten Aristokraten saßen und das Weltgeschehen diskutierten, war der Widerstand der Balkanländer gegen die österreichische Besatzung. Ein Pulverfass östlich der Adria. Ein einziger Funke könnte eine Kettenreaktion auslösen, die die Verbündeten unweigerlich in einen Krieg führen würde.
Doch jedes Land brauchte den Frieden, um seine nationalen Ziele zu erreichen. Das Deutsche Reich benötigte ihn, um das Verkehrsnetz auszubauen. Außerdem strebte es nach einem gleichberechtigen Rang unter den Großmächten. Deshalb erweiterte man die »Schutzgebiete« in Afrika und suchte die Nähe zum osmanischen Reich.
Der russische Zar beobachtete derweilen voller Misstrauen das stetig aufstrebende deutsche Volk und wollte gleichzeitig seine Kolonien vergrößern.
Die Briten sahen durch den wachsenden Einfluss der Deutschen im Nahen Osten die Gefahr, dass der immense Schatz von unentbehrlichen Rohstoffen, die dort verteilt wurden, nicht bei ihnen, sondern in Berlin landen könnte. Hinzu kam noch der Staatsbesuch des Königs von Großbritannien in Frankreich. Die Bündnispartner auf dem Kontinent rückten enger zusammen und alle gierten nach immer mehr.
Gleichzeitig gab es Länder, die die Unterdrückung abschütteln wollten und selbst nach Größe strebten. Es rumorte in Europa.
Doch noch drehte sich das famose Riesenrad auf dem Wiener Prater, und wenn Franz Ferdinand ein Ziel hatte, dann war es die Diplomatie anstelle des Kreuzens von Säbeln. Dazu musste man miteinander reden – von Angesicht zu Angesicht. Deshalb stand sein Entschluss fest. Er würde verreisen.
Mit beiden Händen schob er die schwere Doppeltür zum Arbeitszimmer auf. Sein Rang und seine Position erforderten von allen Anwesenden, zum Salut zu stehen, was auch augenblicklich und durch das Zusammenschlagen der Hacken deutlich hörbar geschah. Nur sein Onkel, der Kaiser von Österreich, musste sich nicht erheben. Er saß mit versteinerter Miene am Kopfende des großen Tisches.
»Worum geht es?« Der edle Erzherzog Franz Ferdinand stellte diese rhetorische Frage, denn die düsteren Mienen auf den Gesichtern der Anwesenden verrieten ihre Besorgnis. Sein erhabener und ehrwürdiger Onkel, Kaiser Franz Joseph I., wandte sich ihm mit eindringlichem Ton zu.
»Wir müssen davon ausgehen, dass uns verschiedene Mächte in einen Krieg verwickeln wollen«, sagte er voller Inbrunst.
»Das ist nichts Neues. Dort, wo sich Länder ausbreiten und andere Völker unterwerfen, gärt es in der Regel im Untergrund«, wehrte der ruhmvolle Erzherzog die mahnenden Gedanken ab und nahm Platz.
»Ohne Ihnen zu nahe treten zu wollen, verehrte Hoheit, ich glaube, sie unterschätzen die Gefahr. Laut unseren Informanten geht von den bosnischen Separatisten eine ernste Gefahr aus. Wir befürchten sogar …«
Mit einer Handbewegung schnitt Erzherzog Franz Ferdinand dem sprechenden Offizier unwirsch das Wort ab und betrachtete daraufhin die Fotografien, die ausgebreitet vor ihm lagen. Das Schwarz-Weiß-Bild eines Mannes, der aussah, als ob er unfähig sei zu lachen, starrte ihn eiskalt an.
»Woher haben sie diese Informationen?«, fragte er nun doch leicht zögernd und spähte in die Runde der Anwesenden.
»Wir haben ein Telegramm von deutschen Agenten erhalten. Ein gewisser General Iblis ist auf dem Weg, um die Operationen der Separatistengruppe Schwarze Hand in Sarajevo zu unterstützen«, beendete der Offizier das, was er vorhin ausführen wollte.
Erzherzog Franz Ferdinand verstand, was sie von ihm wollten. Er sollte sich hier im Herzen von Österreich verstecken und einfach abwarten. Dieser Palast würde sein goldener Käfig sein und er sollte die Straßen nur noch umgeben von Leibwächtern betreten? Davor sträubte er sich.
»Ich soll meine Reise also absagen?«, fragte der Erzherzog bedächtig.
»Ja das sollten sie. Zumindest bis wir weitere Informationen von den Deutschen erhalten. Sie haben den Auftrag, den General auszuschalten, denn ohne Hilfe von außen geht von dieser Organisation in Bosnien keine Gefahr aus.« Fast schon flehend sprach einer der anwesenden Grafen.
Erzherzog Franz Ferdinand schaute sich erneut das Bild und die Unterlagen auf dem Tisch an. Die Gefahr konnte nicht geleugnet werden. Trotzdem wirkten die Risiken überschaubar. Ein schäbiger Haufen von Fanatikern, unterstützt durch einen General Iblis, wollte ihm ans Leder. Es war nicht mehr und nicht weniger.
Wenn er seine Reise jedoch nicht antrat, wäre das ein schlechtes Zeichen für die österreichischen Truppen auf dem Balkan. Es könnte auch Angst und Schwäche ausstrahlen und jeder, der sich als verletzlich zu erkennen gibt, würde irgendwann zum Opfer. Schwäche zeigen durften sie nicht, doch die Gefahr mussten sie zugleich ernst nehmen. »Ich werde gehen«, sagte Franz Ferdinand und verzog konzentriert sein Gesicht.
Einige der Anwesenden murrten leise, sein nobler und achtbarer Onkel legte seine Hände nachdenklich ineinander. Den Moment für ein Machtwort ließ er jedoch verstreichen. Stattdessen herrschte eine betretene Stille.
»Sobald sie neue Nachrichten haben, lassen sie mir diese zukommen. Ich werde aber morgen aufbrechen.«
Der österreichische Thronfolger hob bestimmt seinen Kopf und atmete tief ein.
»Sie sind entlassen.« Mit diesen Worten und einer knappen Geste beendete der Kaiser von Österreich die Besprechung. Erzherzog Franz Ferdinand verließ als erster den Raum.
Nach einem Moment der Konsternation ergriff einer der anwesenden deutschen Generäle das Wort.
»Dieser sture Erzherzog. Sein Dickkopf wird uns noch in den Untergang stürzen.«
»Er beharrt darauf«, sagte einer der Minister verkrampft.
Die Offiziere im Raum konnten die Gefahr, die über Franz Ferdinand schwebte, förmlich spüren. Jeder von ihnen war schon mehr als einmal dem Tod von der Schippe gesprungen. Doch gab es einen kleinen Unterschied zwischen einem Duell, in dem Mann gegen Mann fair kämpften, und einem hinterlistigen Attentat.
Читать дальше