Im flackernden Schein der Öllampe wälzte ich vorsichtig die Fässer zur Seite, entfernte ein Brett und kroch durch die frei gewordene Öffnung. In dem stickigen Speicher des Nachbarhauses herrschte fast völlige Dunkelheit. Nur durch eine kleine dreckige Dachluke drang das fahle Licht des Mondes.
Hier oben entdeckte ich einzelne Kisten. Einige waren recht lang, auf manchen klebte ein Totenkopfsymbol. Direkt unter dem Fenster, wo es am hellsten war, lagen einzelne Gewehre mit aufgeschraubten Bajonetten. Die Preußen, denen das Haus als Unterschlupf diente, hegten mit größter Sicherheit keine guten Absichten.
Am Ende des Speichers stieß ich auf eine steile Holztreppe, die in das darunterliegende Stockwerk führte. Vorsichtig bewegte ich mich Schritt für Schritt die Stufen hinunter, zog die Tür einen Spalt auf und betrat den verlassenen Raum.
Allem Anschein nach befand ich mich nun in einem der Schlafzimmer dieses Haues. Auf dem eisernen Bett lag eine Matratze mit Decken. Die Türen des Kleiderschranks waren mit versierten Schnitzereien versehen und ein Stapel Papier auf einem Sekretär verriet, dass hier ab und zu jemand herein kam.
Wer lebte hier? Was ging hier vor sich? Wo waren die Sigmundssons und warum lagerten Waffen auf dem Speicher? Alle diese Fragen drehten sich in meinem Kopf. Um Antworten zu bekommen, musste ich mich weiter in dem Haus umschauen. Vorsorglich zog ich meine Schuhe aus und schlich bedächtig zur Treppe, die nach unten führte. Je weiter ich hinunter huschte, desto deutlicher drangen Stimmen an mein Ohr. Offensichtlich war eine wilde, hektische Diskussion im Gange. Es klang, als ob hier jeder auf seiner Meinung beharrte. Irgendwie musste es mir gelingen, einen Blick in den Raum zu werfen, aus dem die Stimmen kamen.
In dem Flur vor dem Zimmer hing ein kleiner Spiegel an der Wand. Wenn ich nicht in den Raum gehen konnte, dann bot dieser zumindest die Chance, von außen einen Blick in das fremde Zimmer zu werfen. Vorsichtig nahm ich den Spiegel ab und hielt ihn in verschiedenen Winkeln in die nur angelehnte Tür.
Fünf düster blickende Männer mit langen Mänteln und schweren Stiefeln saßen und standen um einen Tisch. Spätestens jetzt wusste ich, dass der Bettler vor der Tür zu dieser Truppe gehörte, denn fünfmal das gleiche Schuhwerk konnte kein Zufall sein. Auf dem Tisch befand sich ein ähnlicher Fernschreiber wie ihn mein Meister besaß. Die Diskussion, die geführt wurde, drehte sich darum, welche Botschaft durch dieses Gerät übertragen werden sollte. Als ich den Winkel des Spiegels ein wenig veränderte, erkannte ich an der Rückwand des Raumes eine große Landkarte von Europa.
Bisher hatte ich keine Ahnung, weshalb wir uns auf dieser Reise befanden, aber vielleicht hatte es ja mit dieser Karte und dem seltsamen Koffer zu tun, der nun geöffnet auf dem Tisch stand. Überall lagen Dokumente herum, die von den Männern akribisch untersucht und besprochen wurden.
Schließlich einigten sich die Männer auf die Botschaft, die sie übermitteln wollten. Während einer den Text vorgab, betätigte ein anderer das Gerät. Da war er! Der Mann aus dem Stall.
»Mittelmächte sollen in einen Krieg gezogen werden. Weiterbau der Eisenbahn soll verhindert werden. Schutz der Adeligen und Politiker muss erhöht werden. Versuchen Weiteres in Erfahrung zu bringen.«
Im Spiegel konnte ich erkennen, wie sich die Männer besorgt anschauten. Dann wurden die Sachen wieder sorgfältig in den Koffer geräumt.
»Bring das Gepäck wieder zur Kutsche«, sagte ein Mann mit Vollbart zu jenem, dem ich gefolgt war. »Wir müssen abwarten, welchen Auftrag wir erhalten. Vorher können wir keine Entscheidungen treffen.«
Wenn ich Glück hatte, dann würde mein Meister nie erfahren, dass jemals etwas aus unserer Kutsche gestohlen wurde. Anscheinend wendete sich noch einmal alles zum Guten.
Lautlos verschwand der Spiegel wieder an seinen Platz und unhörbar betrat ich die erste Stufe der Treppe. Knapper hätte mein Abgang kaum sein können, denn just in dem Moment, als meine Ferse hinter der ersten Biegung verschwand, öffnete sich die Haustür. Nun war es für mich unmöglich, die Treppe weiter nach oben zu gehen. Selbst ohne Schuhe war die Gefahr zu groß, dass eine der Dielen knarren würde. Wie versteinert stand ich dort und wartete ab, was passieren würde.
»Wisst ihr, ob unsere Nachbarin Verwandte hat?«
In der Küche entstand ein Gemurmel und ich hörte wie Stühle nach hinten gerückt wurden.
Es konnte nur noch Sekunden dauern, bis sie mich entdeckten. Dann wäre es aus mit mir. Keiner würde mich vermissen und mein Meister würde sich einfach einen neuen Diener suchen.
Doch plötzlich ertönte durch die angrenzenden Gassen ein durchdringender Klang, dessen Ursprung ich direkt zuzuordnen wusste. Dies war meine Rettung! Wild und unbändig hämmerte die Nachbarin auf ihren metallenen Gong. Dazu rief sie mit lauter Stimme die Menschen dazu auf, Fenster und Türen zu schließen – immer und immer wieder. Erst nur laut, dann gellend.
Die Männer rannten nun zur Haustür und zum Fenster und reckten die Hälse, um zu sehen, was dort draußen vorging. Ich aber nutzte die Verwirrung und den Lärm im Haus, um so schnell es ging die Treppe nach oben zu hasten. Durch das Schlafzimmer erreichte ich den Aufgang zum Speicher und verschwand auf dem Dachboden.
Hier war das Dämmerlicht des Abends dem Schein des Vollmonds gewichen und der Stauraum unter dem Dach war nun sogar heller erleuchtet als zuvor. Unter dem Fenster lagen immer noch die Gewehre und die geheimnisvollen Kisten. Als ich mich gerade neben einem der länglichen Kästen befand, stieg ein schrecklicher Gedanke in mir auf. Ein Schauer der Erkenntnis durchströmte meinen Körper. Wahrscheinlich barg diese Kiste das Rätsel um die verschwundene Familie Sigmundsson. Irritiert hielt ich inne und überlegte, ob ich nicht so schnell wie möglich vom Speicher verschwinden sollte. Aber irgendetwas drängte mich, die Wahrheit herauszufinden. Also drückte ich vorsichtig den Deckel der Kiste ein Stück nach hinten. Der faulige Geruch nach Verwesung bestätigte meine Befürchtungen.
Als ich mich endlich traute, direkt in die Öffnung zu schauen, erwartete mich ein grauenvoller Anblick, den ich nie wieder vergessen werde. Von Würmern zerfressen lag eine männliche Leiche in ihrem getrockneten Blut und verrottete. Durch die zum Teil eingeschlagene Schädeldecke waren Stücke des Gehirns zu sehen. An anderen Stellen war das Fleisch schwarz und fleckig. Ein Schauder durchfuhr mich. Ich wollte den aufsteigenden Brechreiz unterdrücken, doch ich schaffte es nicht – was ich sah war zu furchtbar. Ein Schwall aus Flüssigkeit und Resten meiner letzten Mahlzeit ergoss sich über Herrn Sigmundsson. In Panik zog ich den Deckel wieder zurück und verschwand durch das Loch in der Wand in das Nebenhaus.
Dort kletterte ich leise über die hölzerne Stiege hinab in das Dachgeschoss und eilte dann weiter in das untere Stockwerk. Noch ehe ich das Ende der Treppe erreicht hatte, sah ich die Hausherrin, die mir außer Puste entgegenkam.
»Ich habe mich um sie gesorgt«, redete sie verängstigt los. »Der Bettler, er hatte seinen Platz verlassen und …«
»Danke, sie haben mein Leben gerettet!«, erwiderte ich und hielt mich erleichtert am Geländer fest.
Immer noch völlig aufgelöst, wiederholte ich in groben Zügen, was ich zuvor aufgeschnappt hatte: Die Mittelmächte sollen in einen Krieg gezogen werden, Adelige und Politiker sind in Gefahr.
Ein besorgter Schatten huschte über ihr Gesicht und die Adern an ihren Schläfen pulsierten. »Anscheinend plant jemand einen Anschlag und die Deutschen haben Wind davon bekommen«, kommentierte sie das Gesagte und blickte sorgenvoll auf die Wand zum Nachbarhaus. »Und was ist mit den Sigmundssons? Wo sind sie?«, fragte sie zögernd.
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