»Vielen Dank.« Für mich war damit das Gespräch schon zu Ende, doch die Frau wollte mir nur zu gerne noch mehr verraten. »Ich weiß zwar nicht, wer jetzt dort wohnt, aber als Nachbar macht man sich doch so seine Gedanken …«, flüsterte sie mir zu.
»Was wollen sie damit andeuten?«, hakte ich nach, denn meine Neugier war geweckt. Und sie ließ sich nicht lange bitten: »Nun, ich frage mich schon, was sich hier abspielt. Vor wenigen Tagen ist Familie Sigmundsson einfach verschwunden. Kein Mensch weiß wieso oder wohin. Und dann zieht dort sofort eine Gruppe von Männern zusammen mit einer Frau ein! Ich sag ihnen, das ist mir nicht ganz geheuer.« Immer wieder hatte die Frau dabei verstohlen zu dem Haus hinübergeschaut. Doch jetzt blickte sie mir fest in die Augen. »Warum interessiert sie das eigentlich, junger Mann?«, fragte sie offen heraus.
Ich konnte die Frau nicht einschätzen: Sollte ich mich ihr anvertrauen? Aber die Geschichte hatte mich gepackt. Was war im Haus der Sigmundssons geschehen? Es gab für mich kein Zurück mehr. Außerdem machte die Frau einen redlichen Eindruck und ich durfte meinen Meister nicht enttäuschen.
Also antwortete ich ihr im Flüsterton: »Ich verfolge einen Mann, der heimlich etwas aus unserer Kutsche gestohlen hat. Ich bin mir sicher, dass er in diesem Haus verschwunden ist.«
»Was sie nicht sagen«, presste sie hervor. Die ganze Geschichte hatte offensichtlich jetzt auch ihr Interesse geweckt. Also wagte ich eine kühne Bitte: »Wäre es vielleicht möglich, dass ich mich hier bei ihnen noch etwas gründlicher umschauen könnte?«
»Sicherlich, gegen einen gemeinsamen Tee zum Abend sollte nichts einzuwenden sein, oder?«, sagte sie, zwinkerte mir verschwörerisch lächelnd zu und gemeinsam gingen wir zur Tür ihres Hauses.
Die ganze Zeit über schien uns der fremde Bettler vor dem Nebenhaus aus den Augenwinkeln beobachtet zu haben; seine Körperhaltung verriet seinen Argwohn. War meine Absicht durchschaut worden? Die Nachbarin hatte wohl denselben Eindruck, denn aus heiterem Himmel sagte sie auffallend laut, sodass es auch jeder hören musste: »Schön, dass du es geschafft hast, deine alte Tante nach so vielen Monaten zu besuchen.« Diese Worte waren für den Mann im Regenmantel bestimmt.
»Gerne, ich hatte dir doch versprochen, einmal bei dir vorbei zu kommen«, erwiderte ich unbeholfen.
Dann zog sie in aller Ruhe ihren großen Schlüssel aus der Manteltasche, öffnete die Tür und bat mich in ihr Haus.
Ein mulmiges Gefühl beschlich mich: Was sollte ich dieser Frau erzählen, wenn sie mich nach meinem Leben fragen würde? Was wusste ich denn wirklich über mich und meine Vergangenheit? Da waren nur Bilder und Bruchstücke, die meist dann in meiner Erinnerung auftauchten, wenn ich mit meinem Meister auf dem Festland unterwegs war. Spuren einer fremden, vergessenen Welt. Fragile Erinnerungen an etwas, das mein Leben gewesen zu sein schien.
Einmal sah ich mich, wie ich auf einem kleinen Holzstuhl saß und einen Lehrer betrachte, der neben einer Tafel stand. In seiner rechten Hand hielt er einen Stock. Auf der Tafel standen Wörter in verschiedenen Sprachen und Zahlen, die sich zu Formeln zusammensetzten. Anscheinend war ich einst in vielen Dingen unterrichtet worden, hatte Menschen aus aller Herren Länder getroffen und in vornehmen Kreisen gelebt. Dann vermischte sich das Bild mit dem eines Jungen, der auf einem Pferd saß und an einer Treibjagd teilnahm. Ich erkannte mich in ihm wieder, und doch fühlten sich diese Eindrücke so fremd und unwirklich an.
Solche Momente blieben nicht lange. Die Erinnerungen gingen, angstvolle Ungewissheit kam, die Leere blieb. Ohnmacht und eine schmerzvolle Unruhe quälten mein Herz. Was war mein Leben? Wer war ich?
Hinter uns fiel die Tür ins Schloss und die Frau sicherte sie mit einem zusätzlichen Metallriegel. Auch wenn sie auf mich einen eher biederen Eindruck machte, fühlte ich mich etwas unwohl in meiner Haut.
»Wissen sie«, flüsterte die Frau, »etwas stimmt hier absolut nicht.«
Leicht verwirrt schaute ich mich um. Der Eingangsbereich bestand lediglich aus einem schmalen Flur, auf dessen Boden ein abgetretener Läufer lag. Zwei Türen auf der rechten Seite ermöglichten den Zugang zu anderen Räumen.
Dahinter gab es eine einfache Holztreppe, die nach oben führte. An der Treppe hing ein metallener Gong, der eventuell dazu diente, die übrigen Bewohner des Hauses zum Essen zu rufen.
An einer der Wände entdeckte ich einige Schwarz-Weiß-Fotografien und von der Decke hing eine unförmige Schirmlampe herab. Die Frau schien wohlhabend genug zu sein, um ihre Wohnung geschmackvoll einrichten zu können.
»Was meinen sie damit, dass hier etwas nicht stimmt?«, fragte ich halblaut.
Sie legte nur den Zeigefinger auf ihren Mund und gab mir zu verstehen, leise zu sein. Nun drückte sie ihr Ohr an die Wand des Flures und hielt sich das andere Ohr zu.
»Ich muss wohl nicht betonen, dass, wenn wir sie hören können, dies umgekehrt genauso gilt«, flüsterte sie.
Nun legte auch ich mein Ohr an die Wand zum Nachbarhaus. Tatsächlich hörte ich Stimmen. Sie drangen von der anderen Seite wie durch einen Filter zu mir herüber. Die hohen Töne hatten es schwerer als die tiefen, aber einzelne Wortfetzen kamen an.
»Was geht da vor sich?«, raunte ich und nahm meinen Kopf von der Wand.
Die Frau schaute mich klar und unerschrockenen an.
»Im Nachbarhaus halten sich Preußen auf …«
»Preußen? Sind sie sich da wirklich sicher?«, unterbrach ich die Frau und ahnte doch gleichzeitig, dass sie mit ihrer Vermutung richtig lag.
»Vor einigen Jahren reiste ich in einer Familienangelegenheit nach Danzig. Von daher ist mir diese harte Sprache in Erinnerung geblieben«, fuhr sie fort.
Für einen Moment standen wir uns schweigend gegenüber. Dann begann sie zögernd von Neuem: »Wissen sie …« Anscheinend war sie noch unsicher, ob sie ihr Geheimnis preisgeben sollte. Sie fixierte mich mit ihren Augen und nahm allen Mut zusammen.
»… auf dem Speicher befindet sich ein Durchgang zum Nachbarhaus. Davon weiß niemand außer mir. Es handelt sich um eine kleine Luke, die auf die andere Seite führt.« Erneut legte ich den Kopf an die Wand und versuchte etwas zu erlauschen. Doch selbst wenn ich den Rest des Abends hier stünde, könnte ich doch nicht verstehen, was sich auf der anderen Seite der Wand abspielte.
Die Fremden im Haus der Sigmundssons sprachen tatsächlich deutsch, denn ich verstand einzelne Bruchstücke und hatte diese Sprache anscheinend einst gelernt. Allerdings ergaben die Worte für mich keinen Sinn.
»Dürfte ich sie denn bitten, mir den erwähnten Durchgang zu zeigen?«
»Warten sie, denn die Wände in diesem Haus können keine Geheimnisse für sich bewahren«, flüsterte sie. Dann schlurfte sie ins Nachbarzimmer. Dort holte sie eine Platte aus dem Schrank, hob den silbernen Arm des Grammophons vorsichtig an und legte die Scheibe auf. Zunächst vernahm ich nur ein leises Kratzen, dann hörte ich eine singende Männerstimme. Jetzt trat die Frau wieder heraus auf den Flur.
»Normalerweise bin ich nicht so vorsichtig. Aber das, was dort drüben vor sich geht, ist mir einfach nicht geheuer«, erklärte sie ihr Verhalten.
Dann stiegen wir die Treppe hinauf und ich folgte ihr leise auf den Dachboden. Dort angekommen zog sie mit einem Haken an einer Öse, die fast unsichtbar in der Decke versteckt war. Eine Holztreppe klappte wie aus dem Nichts herunter und vor uns befand sich der Einstieg zum Speicher.
»Bitte sehr.« Nacheinander stiegen wir langsam und vorsichtig die raue Leiter hinauf. Oben angekommen zündete meine Gastgeberin eine kleine Öllampe an, die an einem Dachbalken hing.
»Schauen sie, dort hinter den Holzfässern befindet sich die verborgene Öffnung, die hinüber führt.«
Читать дальше