Dort stand er: General Iblis. Ein magerer, sehniger Mann mit zerfurchtem Gesicht, schütterem Haar und einer Warze zwischen Vollbart und rechtem Auge.
Entschieden schritt er die Treppe ins Erdgeschoss hinauf. An seinem Gang konnte man seine militärische Vergangenheit und die Zukunft der Welt erahnen. Jeder seiner Schritte entsprach dem vorherigen. Mechanisch gesteuert, wie bei der Parade eines einzelnen Kämpfers, betrat er die Diele. Die große Wanduhr, deren Metallpendel monoton hin- und herschwang, zeigte kurz nach sechs. Kein anderer Bewohner hatte bisher sein Gemach verlassen. Stets stand er als Erster auf und ging als Letzter zu Bett, und auch dann brauchte er keinen Schlaf.
Alles ging seinen Gang. General Iblis hatte immer alles im Griff. Er spielte die Figuren, die zu ihm gehörten, gegen seinen Gegner und gegeneinander aus. Ganz wie es ihm und seinen Zielen diente.
Seit Ewigkeiten regierte er seine Insel mit eiserner Hand und trieb auch auf dem Festland sein Unwesen. Dort war seine Macht jedoch begrenzt. Nicht jeder unterwarf sich seiner Herrschaft.
Zudem veränderte sich die Welt der Menschen ständig. Regierungen gewannen an Macht – und verschwanden ebenso schnell wieder von der Bildfläche. Neue Techniken und Maschinen brachten unschätzbare Möglichkeiten. »Ressourcen« lautete das neue Schlagwort dieser Zeit. Im Mittleren Osten wurde das »schwarze Gold« aus den Tiefen der Erde zutage gefördert – der wohl wichtigste Rohstoff der kommenden Epoche. Wer sich hier den Zugang zum Erdöl verschaffte, würde mit Sicherheit in den kommenden Jahren und Jahrzehnten in Europa das Sagen haben.
Mit diesem Argument war es ihm gelungen, einige große Herrscher von seinem Plan zu überzeugen. Es ging darum, den Ausbau der Eisenbahnlinie von Berlin, der Metropole im Herzen Europas, bis nach Bagdad zu verhindern.
General Iblis öffnete die Tür und trat auf seine Veranda. Im Tal hingen Rauchschwaden, die wie eine undurchdringliche Wand alles verbargen. In der Ferne ragten braunschwarze, mit Schnee bedeckte Gipfel empor. Weil es an diesem frühen Morgen recht kalt war, sog er die Luft durch seine Nase ein und blies sie durch den Mund wieder aus. Gleich würde die Morgendämmerung verschwinden und dann wäre es wieder Nacht, denn auf dieser seiner Insel gab es keinen Tag.
»Bursche!« Mit seiner alles übertönenden Stimme rief er nach seinem persönlichen Sekretär. Er hatte nach mir verlangt.
Müde von der morgendlichen Arbeit öffnete ich das Stalltor. Selbst ohne Mistgabel und Strohhut hätte man mir angesehen, dass ich zu einer anderen Schicht der Gesellschaft gehörte. Sicherlich stand ich über den Tagelöhnern, Läufern und anderen Sklaven, die hier auf dem Landgut schuften mussten. Aber würde es diese billigen, rechtlosen Arbeiter nicht geben, stünde ich am Ende der Kette.
Ich war der Sklave meiner Herkunft und würde dies auch bleiben, daran bestand für mich kein Zweifel.
»Pferde anspannen! Wir verreisen!«
Nie wurde anders mit mir gesprochen. Noch nie hatte ich ein »Bitte« oder »Danke« gehört. Warum auch? Ich musste nur gehorchen, ich hatte nur zu funktionieren, und das achtzehn Stunden am Tag. Ruhetage gab es keine und von einem warmen Bad in einer Zinkwanne konnte ich nur träumen.
»Brauchst du eine schriftliche Einladung oder soll ich nachhelfen?«
Nachhelfen war angenehm ausgedrückt. Wenn der Meister vom Nachhelfen sprach, bedeutete dies für jeden im Haus nur eines: Schmerzen. Er würde den Lederriemen vom Haken im Wohnzimmer nehmen und noch vor der Dämmerung wäre mein Rücken von tiefen roten Striemen gezeichnet.
Also drehte ich mich um, stellte die Mistgabel an das Tor und eilte los, um die geflügelten Gäule von ihrer steinigen Koppel zu holen. Der Weg führte durch ein ausgetrocknetes Flussbett, vorbei an brodelnden Seen aus Schwefel, verkohltem Gehölz und stinkenden Sümpfen. Am Wegesrand lagen aufgedunsene Kadaver, Untiere streunten über das dürre Land und der süßliche Geruch von Verwesung umhüllte uns.
Die Mähnen der Pferde bestanden aus Dornen. Schmeißfliegen schwärmten um ihre Köpfe und anstelle eines Fells kleidete sie ein silberner Panzer. Zwischen den einzelnen Schuppen ragten giftige Stacheln empor, deren Kontakt den Tod bedeuten konnte.
Am Herrenhaus angelangt band ich die beängstigenden Mähren an einen knorrigen Baum, ließ sie aus einer Pfütze Brackwasser trinken und begab mich zur Sattelkammer.
Der General sah, dass seinem Befehl Folge geleistet wurde. Nun würde es nur noch wenige Minuten dauern, bis die Pferde angespannt und zur Abreise bereit stünden. Versonnen stopfte er sich eine Pfeife, zerbröselte ein wenig verschimmeltes Brot und fütterte mit den Krümeln die ausgemergelten Krähen vor seiner Veranda. Nachdem der Tabak verglüht war, klopfte er den Pfeifenkopf an dem schwarzen Stützpfosten des mit Pech überzogenen Daches aus.
Dann drehte er sich hastig um und ging mit eilenden Schritten in seine Schreibstube. Den Fernschreiber, der dort auf einem separaten Tisch stand, besaß er noch nicht lange. Aber abgesehen vom Automobil war er wohl eine der größten Erfindungen des letzten Jahrhunderts und ermöglichte, schneller als je zuvor mit anderen zu kommunizieren.
»Werde ihren Anweisungen Folge leisten. Können sich auf mich verlassen. Ergebenst, General Iblis«, bestätigte er den Auftrag, den er erhalten hatte.
Welch ein Betrug, denn eigentlich war er nicht ihnen ergeben, sondern sie ihm. Sie gehorchten seinen Befehlen und liebten die Ideen, die er ihnen scheibchenweise eingab. Jedoch spielte er seine Rolle so gut, dass sie nicht sahen und hörten, was wirklich geschah. Er trieb seinen Schabernack mit ihnen und sie merkten es nicht.
General Iblis stand auf und verließ das Haus. Das, was nun vor ihm lag, würde all seine bisherigen Taten übertreffen. Sein Plan war bestialisch und schlechthin perfekt. Diesmal würde alles noch überwältigender werden als je zuvor. Der Schneeball, den er ins Rollen brachte, würde sich in eine Lawine von ungeahntem, noch nie da gewesenem Ausmaß verwandeln. Die Sanduhr ließe sich dann gar nicht so schnell wenden, wie die Menschen ausgelöscht würden.
»Bursche! In dein Quartier, Beeilung! Wir sind lange unterwegs, hol dein Zeug und verstau das Gepäck in der Kutsche«, brüllte er von der Veranda zu mir herüber.
Nachdem ich alles verladen hatte, stieg ich auf den Kutschbock, ließ die Gerte in die Luft schnellen und lenkte die Kutsche mit ihrem grässlichen Gespann vom Hof. Um mich vor der morgendlichen Kälte zu schützen, hatte ich nur eine dünne Decke, die sich über meinen Beinen spannte. Der modrige Gestank der Pferde wehte mir entgegen und in den gläsernen Laternen neben der Pritsche befanden sich glühende Kohlen.
Vor mir lag eine Reise in eine andere Welt.
Hinter mir unter dem Kutschendach saß mein Meister. In seiner Hand hielt er eine kleine Sanduhr und drehte diese mit ungewohnt langsamen Bewegungen immer und immer wieder um. Ich hörte, wie der General dabei leise vor sich hin murmelte. »Ich werde eine neue Welt erschaffen, die Erde wird danach eine andere sein.« Was er damit meinte wusste ich nicht, doch ich befürchtete Schlimmes.
Dann erhob er in seinem üblichen Befehlston seine Stimme und donnerte mir zu: »Schneller! Wir müssen zum Strand!«
Über einen schlammigen Weg, der zu einem Tunnel aus Eis führte, erreichten wir die Küste. Dem Läufer, der sich dort vor meinem Meister in das Geröll warf und mit gesenktem Kopf etwas berichtete, war ich bisher noch nie begegnet. Seine Worte waren Kauderwelsch für mich, doch offensichtlich erfreuten sie meinen Meister. Nachdem der Läufer den Krümel Brot aus dem Dreck gepult hatte und sich mit wankenden Schritten entfernte, lenkte ich die Kutsche zum Anlegeplatz der Insel. Versteinert starrte ich auf das Meer, als wir den verwitterten Steg erreichten.
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