Wieder schüttelte Agnus den Kopf und kam auf die zwei zu. Ara sprühte vor Leben und bei ihrem Anblick musste er immer an Pipi Langstrumpf denken. Ihr ständig wechselndes Aussehen passte zu ihrem quirligen Auftreten. Im Moment trug sie ihr eigentlich blondes Haar hinten zu zwei kurzen Zöpfen geflochten – dunkelviolett mit schwarzen Strähnen, oder schwarz mit lila Strähnen? Wer konnte das schon sagen!
„Hallo, Agnus, warum das Regenwettergesicht?“
„John kam gerade mehr tot als lebendig zurück. In einer Stunde ist Krisensitzung. Bitte sag Vinz Bescheid.“
Ihre übergroße, rosa Kaugummiblase zerplatzte mitten auf ihrem bestürzten Gesicht.
„Haben ihn die Gesetzlosen erwischt?“, fragte sie undeutlich, während ihre Finger mit dem Kaugummi kämpften.
Er stöhnte. „Wohl eher eine Frau, die John aus dem Wasser gefischt hat, so nass, wie die beiden waren. Alva wird alles tun, was in ihrer Macht steht, doch von dem, was ich mit bloßem Auge erkennen konnte – na ja wir werden es abwarten müssen.“
Aras Kaugummi war bereits wieder in ihrem Mund und ihr ganzes Gesicht strahlte auf einmal. „Ach, das ist so romantisch! Ich renn eben zu Vinz und erzähl ihm alles!“
Und schon stürmte sie davon wie ein Wirbelwind, das komplette Gurtzeug immer noch an.
Kein Wunder, dass Ara und Ambi sich so gut verstehen , sagte sich Agnus im Stillen. Ambrosius’ Leben glich einer Riesen-Dominoschau, bei der die fallenden Steine ständig die Richtung wechselten, Dinge in Bewegung brachten, kleine Feuerwerke oder Ähnliches in Gang setzten. Dieser Vampir war immer noch neugierig wie ein kleines Kind und probierte mit Begeisterung ständig etwas Neues aus. Vielleicht lag das ja an seinem Naturell als Forscher, dachte Agnus. Ambi kämpfte zwar Seite an Seite mit den Wächtern, doch eigentlich forschte er unter ihrem Dach nur im Auftrag der Vampire. Sein Spezialgebiet war die Chemie in all ihren Spielarten, insbesondere die menschliche und vampirische Körperchemie, Hormone, Botenstoffe und so weiter. Ziel seiner Forschung war, das Geheimnis der Symbiose zwischen Vampirmännern und Menschenfrauen zu entschlüsseln. Doch Agnus kannte auch seine zweite Leidenschaft, das Fliegen.
Mit dem Anflug eines Lächelns hob Agnus eine Augenbraue, als Ambi das Bungeeseil aus dem Kofferraum holte.
„Na, mit was hat Vinz dir gedroht, wenn seiner geliebten Frau beim Bungeesprung was passiert?“
Der zuckte mit den Schultern und grinste.
„Für jeden blauen Fleck muss ich einmal die Zielscheibe spielen, wenn unser Waffenguru seine Smith & Wesson zum Schießstand ausführt.“
„Das war alles?“, fragte Agnus skeptisch.
„Falls Ara was Ernsteres passiert, hat er gedroht, mich in den Turm zu sperren und zuzusehen, wie die Sonne mich in Asche verwandelt, nachdem er die Deckenluke geöffnet hat. Aber wie du siehst, ist alles glattgegangen und wir fahren gleich ein paar Autorennen auf seiner neuesten Spielkonsole.“
„Über den Turm solltest du im Moment lieber keine Scherze machen“, murmelte Agnus mit einem ganz miesen Bauchgefühl und setzte seinen Weg in Richtung Trainingsraum fort, um Raven und Rose über die Krisensitzung zu informieren.
Die Wahrscheinlichkeit, die beiden dort anzutreffen, war immer sehr hoch und wie erwartet, trainierte das Paar gerade auf den dicken Matten miteinander.
Er sah ihnen gerne zu, denn die beiden wirkten wie zwei eingespielte Tänzer. Nur dass dieser Tanz mit dem Tod des Gegners endete – wenn sie nicht übten.
Jeder der zwei besaß einen durchtrainierten Körper, den andere vermutlich auch als attraktiv bezeichnen würden. Sein Wächter Raven war zwar nicht der größte unter den Vampiren, doch jeder einzelne Zentimeter besaß tödliches Potenzial. Die rabenschwarz gelockten Haare der beiden reichten ihnen bis über die Schultern. Nur bei Rose, die eigentlich Rosalina hieß und spanische Wurzeln hatte, waren sie etwas länger und die Locken größer als bei Raven, dessen Mutter aus dem Orient stammte. Ara hatte einmal gesagt, sie würden optisch ein Traumpaar für jede Hochglanzillustrierte abgegeben, wenn Raven nicht diese Tätowierung hätte. Agnus wusste, dass Außenstehende ihn durch die tätowierte Schlange, die sich von seinem Unterleib bis ins Gesicht schlängelte und dort mit ihren übergroßen Fangzähnen sein Auge zu verschlingen drohte, als furchterregend empfanden. Und sie taten seiner Meinung nach gut daran, nicht zuletzt, weil die Schlange das Zeichen der mörderischen Feinde war, zu denen er einst gehörte.
Agnus beobachtete, wie die beiden sich gerade abwechselnd in fließenden Bewegungen angriffen, wobei Raven sich als Vampir immer extrem gut unter Kontrolle haben musste. Ein ungebremster Schlag von ihm würde ihr sofort die Knochen brechen. Doch auch sie war nicht ohne. Ambi hatte einmal gescherzt: „Unsere Rose hat Dornen“, womit er absolut recht hatte, denn auch wenn der Name Rose ihrer Schönheit entsprach, bekamen ihre Gegner nur ihre Dornen zu spüren und bluteten nicht selten.
In diesem Moment sprang Raven mit einem geschmeidigen Satz auf Rose. Die hielt ihn fest und ließ sich rückwärts fallen. Sie nutzte seinen Schwung und half mit den Beinen etwas nach, sodass er über sie hinwegflog und auf dem Rücken landete. Einen Wimpernschlag später lag Rose der Länge nach auf ihm, ein Messer an seiner Kehle.
„Du hast mich schon wieder siegen lassen, Raven! Ich hasse das!“
„Ich dachte, du willst auch mal gewinnen, und besiegt unter dir zu liegen, ist ein Genuss für sich, du …“
„Raven! Wir wollten trainieren!“
Agnus konnte das äußerst seltene Lächeln seines Wächters sehen, der Rose nun an sich presste und einmal herumrollte, sodass er auf ihr lag. Das Messer hatte er ihr geschickt entwunden und seine scharfen Fangzähne lagen nur einen Hauch von ihrem Hals entfernt. Frustriert ließ Rose eine Schimpftirade auf Spanisch los.
„Meine Rosalina. Du hasst es, die Schwächere zu sein, aber gleichzeitig verabscheust du unterlegene Männer. Wie soll man dich nur zufriedenstellen?“
Agnus roch die aufkommende Erregung im Schweiß der zwei und räusperte sich hörbar, woraufhin Raven nur ungehalten knurrte.
„Du bist hier nicht in deinem Schlafzimmer, also spar dir dein Knurren. Krisenbesprechung in einer Stunde. Und geht gefälligst auf euer Zimmer, wenn ihr weitermachen wollt. Es gibt schließlich auch noch ledige Männer hier bei uns!“
Trotzdem musste Agnus schmunzeln, als er schweren Herzens zurück in sein Büro marschierte.
Elia betrat den großen, verglasten Konferenzraum, den er selbst mit einem riesigen Monitor an der Stirnseite und einer dazugehörenden PC-Station ausgerüstet hatte. Agnus, sein Chef, saß wie immer am Kopfende des riesigen Konferenztisches. Mit Sicherheit hätte jeder Außenstehende ihn sofort als Chef erkannt, obwohl alle in der Runde harte Jungs waren. Elia war überzeugt, dass das nicht an seiner Größe von fast zwei Metern lag oder dem 120 Kilogramm schweren, fettfreien Körper, sondern an seiner Ausstrahlung. Sein Chef war der Typ, hinter dem man sich als Kind vertrauensvoll vor bösen Leuten verstecken würde, und gleichzeitig der, mit dem kein Mann jemals wagen würde, einen Streit anzufangen.
„Wie geht’s John?“, fragte er als Erstes.
„Alva hat ihm sofort eine Infusion mit Eigenblut gegeben. Ich hoffe nur, sie hat genug eingelagert, du hast ihn ja gesehen.“ Elia wusste ebenso wie Agnus, dass im Augenblick kein Spender zur Verfügung stand, und menschliches Blut musste im wahrsten Sinne des Wortes quellfrisch sein. Alle Frauen, die im Hauptquartier wohnten, lebten in einer symbiotischen Beziehung mit einem Vampir. Das Gesetz schützte diese intime Lebensgemeinschaft und erlaubte nur dem jeweiligen Gefährten, ihr Blut zu trinken.
Читать дальше