„Agnus wollte, dass ich ihn gleich anrufe und dich zu ihm schicke, sobald du wach bist, aber …“
„Aber?“ Er blickte zu ihr hoch, registrierte erst jetzt die roten Ränder an ihren Augen. Sie schenkte ihm ihr mitfühlendes, zartes Lächeln. Also wusste Sarah, ebenso wie er, dass es Ärger geben würde. Großen Ärger.
„Aber bleib ruhig noch ein bisschen bei ihr. Ich werde mit meinem Anruf einfach warten.“
Eine Galgenfrist.
„Danke.“
Er richtete den Blick wieder auf Lara, legte ihre Hand erneut in seine und streichelte mit dem Daumen über ihren Handrücken.
„Ich konnte sie nicht sterben lassen, Sarah.“
„Ich weiß, John. Du hast mir damals auch das Leben gerettet, obwohl du dafür das Gesetz übertreten musstest. Elia und ich stehen für immer in deiner Schuld. Wir werden für dich und deine Schriftstellerin da sein, wenn du uns brauchst.“
Er spürte einen kaum merklichen Druck von Sarahs Hand, dann entfernte sie sich.
„Ich lass euch jetzt ein bisschen allein. Du findest mich nebenan, falls etwas sein sollte.“
Sarah war schon fast nebenan, da begriff John erst, was sie gesagt hatte. „Sie ist Schriftstellerin?“
„Ja, stell dir vor, diese Lara schreibt über Ritter. Ist das nicht eine Ironie des Schicksals? Mit bürgerlichem Namen heißt sie zwar O’Brian, aber ihr Künstlername ist Livingstone. Arabella hat erzählt, die Frau sei eine bekannte Autorin und schreibe historische Romane. Eines ihrer Bücher ist eine Geschichte aus der Rokokozeit.“
„Das weiße Kleid, das sie trug“, erinnerte er sich.
Die Tür zum Nebenraum schloss sich hinter Sarah.
John blickte auf Laras leblose Hand, die er hielt.
Sie rührt sich nicht und sie wird nicht aufwachen, aber sie ist am Leben. Ich kann ihre Hand loslassen.
Seine Hand schloss sich trotzdem fester um ihre.
Es war so knapp. Beinahe hätte ich Lara auch verloren!
Ich habe sie dem Tod gerade noch entrissen.
Er konnte ihre Hand nicht loslassen, noch nicht.
Und im Stillen dankte er Gott, dass man sie beide rechtzeitig gefunden hatte. Zum ersten Mal seit über einem Jahr war er froh, noch zu leben.
Ihre Hand fühlte sich warm an. Das stetige Pulsieren ihres Blutes zu fühlen und das gleichmäßige Schlagen ihres Herzens zu hören, brachte ihn auf seltsame Art zur Ruhe.
Er roch das Flusswasser in ihrem Haar. Obwohl es getrocknet war lag ein Hauch der Wildnis darin. An diesem Fluss war er ihr zum ersten Mal begegnet und er erinnerte sich, wie still und friedlich Lara damals vor ihm lag.
Die Erinnerung daran zauberte ein Lächeln auf seine Lippen und im Geist stand er wieder am sandigen Flussufer dieser beeindruckenden Schlucht.
Wie immer hatte er seinen Wagen ein ganzes Stück entfernt abgestellt, weil er es genoss, durch die Wildnis zu laufen und dabei ihre vielfältigen Gerüche und Geräusche aufzunehmen.
Leider hatte die Zivilisation im letzten Jahrhundert dafür gesorgt, dass diese stillen, unberührten Landschaften ständig weniger wurden.
Doch nun stand er wieder an diesem idyllischen Ort und atmete ein paarmal tief durch. Er blickte hoch zu der alten, kunstvollen Eisenbrücke, die sich anmutig über die malerische Schlucht spannte.
Dann wehte die kühle Nachtluft einen Geruch an seine Nase, den Geruch von Beute. Er war nicht in diese menschenverlassene Gegend gekommen, um zu jagen, doch seine rasiermesserscharfen Fangzähne drangen bereits aus dem Kiefer und sein Magen zog sich hungrig zusammen. Nur ein paar Schritte, dann hatte er die Frau in der Ferne entdeckt. Sie schien zu schlafen – zumindest dachte er das anfangs …
Leichte Beute! Still deinen Hunger! , rief sein Instinkt. Tief aus seiner Kehle drang unwillkürlich ein dunkles, gieriges Knurren.
Leise wie ein Raubtier pirschte er sich an sie heran, was unnötig war, denn sie hätte jetzt nicht mehr die geringste Chance gehabt, ihm zu entkommen. Als Vampir war er schneller, stärker und tödlicher als jeder Mensch und selbst von den Raubtieren der Erde konnten es nur wenige mit ihnen aufnehmen. Vielleicht ein Königstiger oder ein Kodiakbär …
Beim Näherkommen zuckten seine Nasenflügel leicht, er blieb abrupt stehen. Diesen unverwechselbaren, weiblichen Geruch erkannte er wieder. Schon öfters hatte genau dieser Duft, der eine angenehme Spur von blühendem Lavendel in sich trug, seine Nase betört. Doch die Unbekannte, die diesen Ort mit ihm teilte, war immer schon fort gewesen, wenn er nach Sonnenuntergang hier eintraf. Kein Wunder, denn man gelangte nur mit einem geländegängigen Fahrzeug über einen holprigen Naturpfad hierher und musste dann auch noch ein Stück laufen. Ohne die hervorragende Nachtsicht eines Vampirs, wäre es schwer, bei Dunkelheit auf dem Weg zu bleiben.
Die Neugier, wer sich wohl hinter diesem Geruch verbergen würde, war für ihn mit der Zeit immer größer geworden. Nun könnte er das Geheimnis endlich lüften und die Unbekannte kennenlernen. Entschlossen drängte er den Hunger und die Aussicht auf warmes, frisches Blut zurück – vorerst.
Im Sichtschutz der Bäume schlich er sich lautlos näher. Plötzlich erstarrte sein Körper mitten in der Bewegung.
Das war doch nicht möglich! Elisabeth?
Nein! Er zwang sich, diesen Gedanken bereits im Keim zu ersticken. Sie war tot! Endgültig!
Dennoch tauchte vor seinem inneren Auge das Bild des Leichensacks auf, als wäre es gestern gewesen. Er roch das Flusswasser, in dem Elisabeth ertrunken war, während seine zitternden Hände den Reißverschluss öffneten und er schließlich in ihre toten, starren Augen blicken musste. Wie ein glühendes Eisen, das niemals erkaltet, hatte sich dieser Moment in seine Seele gebrannt.
Er atmete tief durch, als seine Augen ihm beim lautlosen Näherkommen bewiesen, dass nur ihre Statur und diese rotbraunen Locken seiner verstorbenen Gefährtin glichen. Merkwürdig, denn diesen außergewöhnlichen Farbton, den man wohl zwischen Kastanienbraun und Burgunderrot ansiedeln würde, hatte er bisher nur bei Elisabeth und ihrer Mutter gesehen. Und sein Gedächtnis war ausgezeichnet.
Wunderschöne, lange Locken umrandeten ihr anmutiges Gesicht.
Auf der blassen Haut zeichneten sich ein paar hübsche, winzige Sommersprossen ab und ihre roten, schön geschwungenen Lippen schienen ihn förmlich zu locken.
Lautlos beugte er sich herunter, um an ihren Haaren zu riechen. Seine feine Nase nahm aber keine Spur von Färbemittel oder anderer Chemie wahr, also musste das ihre echte Haarfarbe sein. Im gleichen Moment fiel sein Blick unwillkürlich auf ihre schutzlose Kehle, der Puls seitlich am Hals eine unwiderstehliche Versuchung für einen hungrigen Vampir.
Leichte Beute! Trink! Still deinen Hunger! , forderte das Raubtier in ihm. Sein Kiefer hatte sich schon instinktiv geöffnet und die tödlichen Fangzähne freigegeben. Ehe John es verhindern konnte, drang ein lautes Knurren aus seiner Kehle.
Von sich selbst erschrocken, schnellte er hoch und wich zwei Schritte zurück, legte zornig das innere Raubtier an die Kette.
Seltsamerweise schlief die reizvolle Frau immer noch. Also nutzte er dankbar die Gelegenheit, um seine Entdeckung neugierig zu betrachteten. Ruhig und friedlich lag sie auf einer Decke im Sand des Flussufers vor ihm. Die dunkelbraune Wildlederhose, die sie trug, brachte ihren attraktiven Po aufs Beste zur Geltung und die Ärmel ihrer violetten Seidenbluse waren hochgekrempelt, genau wie er das immer mit seinen Ärmeln zu tun pflegte.
Er wurde das Gefühl nicht los, dass hier irgendetwas ganz und gar nicht stimmte. Nachdenklich neigte er den Kopf zur Seite. Eigentlich hätte sein Knurren gerade eben die schöne Unbekannte aus dem Schlaf reißen müssen. Damit kannte er sich aus, denn als junger Vampir hatte er viele Menschen im Schlaf aufgespürt und gebissen. Bei diesem Gedanken begehrte das Raubtier in ihm nochmals auf.
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