„Was hast du vor mit ihm?“ fragte Lyghdar, nicht ohne einen abfälligen Seitenblick.
„Was würdest du tun, nach allem was du gesehen hast?“
Lyghdars Gesichtsausdruck war zu entnehmen, daß kein Vorschlag von ihm zu erwarten war. Mraeghdars graue Augen verengten sich leicht.
„Gestern morgen“, sinnierte er, „gestern vor der Schlacht machtest du mir zum ich weiß nicht wievielten Mal zum Vorwurf, wie deine Männer damals in einen beodrischen Hinterhalt gerieten....“
„Vergiß nicht, unter wessen Führung.“
„....und welchen Schaden sie dabei erlitten. Schön. Hier hast du einen weiteren Beweis für die Schlagkraft der Bogenschützen. Laß einen von ihnen die ganze Nacht bei Kälte, Wind und Regen halbnackt am Schandpfahl hängen; dann gib ihm die Möglichkeit, durch einen einzigen Schuß selbst dem Feuertod zu entrinnen und zugleich seinen Stammesbruder von der Marter zu erlösen, und entkräftet wie er ist, verfehlt er sein Ziel auf dreihundert Schritte Entfernung nicht.“ Mraeghdar schwieg einen Augenblick, ehe er fortfuhr: „Mit solchen Feinden haben wir es bei den Beodhrim zu tun. Ihre Scharen werden immer zahlreicher, ihre Pfeilspitzen immer tödlicher. Sag mir, Lyghdar, König der Lugdhrim: was haben wir ihnen auf lange Sicht entgegenzusetzen?“
Und da die Antwort ausblieb, ganz gemäß seiner Erwartung, erteilte der Großkönig sie selbst:
„Ihre eigenen Waffen.“
Lyghdar brummte etwas unverständliches, während er sich abwandte und zurück unter das Zeltdach begab.
Da endlich hörte Mraeghdar hinter sich die vertraute Stimme:
„Du hast mich rufen lassen, Großkönig?“
Gemessenen Schrittes kam sie den Hang herab, Yldrun, in Begleitung zweier junger Schülerinnen, von denen jede ein mit Utensilien und Arzneimitteln gefülltes Tuch zum Umhängen an der Hüfte trug. Die korpulente Frau mit dem graumelierten Haar und den wasserfarbenen Augen wogte ohne Umschweife dem Tisch zu, auf dem Aedhwyn ausgestreckt lag. Mraeghdar schnitt ihr überraschend den Weg ab.
„Ehe du dich des Königs annimmst: siehst du den Kydhmar da am Boden liegen? Ich brauche ihn, und ohne deinen Beistand krepiert er womöglich. Du bürgst mir mit deinem Leben für ihn, hörst du?!“
„Ich werde tun was ich kann“, erwiderte Yldrun unbeeindruckt. „Laß ihn in mein Zelt bringen und beordere zwei Wachen ab. Und einen kydhrischen Dolmetscher. Und.... ah, Kalyomelas, dich suchte ich. Dein Bruder ist tot. Mögen die Geister seiner Ahnen ihn sicher hinabgeleiten. Seine letzten Atemzüge tat er unter meiner Obhut, ich komme geradewegs aus seinem Zelt. – So, und jetzt zu Aedhwyn. Seine Gesichtsfarbe verrät mir nichts Gutes....“
Sie beugte sich über den König und versuchte, ihn mit mehreren leichten Wangenschlägen zu sich zu bringen. Als dies nicht gelang, zog sie mit Daumen und Zeigefinger nacheinander die Lider beider Augen auseinander und blickte prüfend darunter. Dann begann sie, vom Bauch an aufwärts, das lederne Wams zu öffnen.
„Helft mir mit dem Verband“, befahl sie ihren beiden Begleiterinnen. Diese entledigten sich augenblicklich ihrer Traglast und gingen ihrer Lehrmeisterin zur Hand, indem sie den regungslos daliegenden Körper sachte anhoben oder zur Seite drehten. Mehrmals blinzelte Aedhwyn und ließ ein mühsam hervorgebrachtes Stammeln vernehmen, kam jedoch nicht ganz zu Bewußtsein.
Mit wenigen, geschickten Handgriffen waren die Bandagen schließlich gelöst; als Yldrun das Pflaster entfernte und die darunterliegende Wunde sah, sog sie mit einem zischenden Geräusch Luft durch die Zähne ein.
„Kundra, rasch: zwei Sklaven mit einer Tragbahre! Brygida, bring dieses Messer zu Vaelundar, er weiß, was er zu tun hat....“ Die Heilerin klatschte energisch in die Hände. „Beeilt euch!“
„Vaelundar?“ Lyghdar schien ehrlich verblüfft. „Der Feldschmied?“
„Der beste von allen“, ließ Yldrun verlauten. „Bei ihm lernte Irmwyn das Handwerk. Sein Geschick würde selbst Gnidhr neidisch machen. Frag Mraeghdar.“
„Irmwyn ist unübertrefflich“, bestätigte der Großkönig, „aber nur weil sein alter Meister darauf beharrt, sein Leben mit den Kriegern zu teilen. Unterhielte Vaelundar eine Werkstatt in Kadhlynaegh, stünde Irmwyn noch immer in seinem Schatten.“
„Und wie kann ein Schmied....“
„....einer Heilerin nützlich sein?“ Furchtlos hielt Yldrun Lyghdars funkelndem Blick stand. Sie genoß es, ihre auf Ansehen beruhende Macht vor den Königen auszuspielen. Keiner von ihnen, noch nicht einmal Mraeghdar, würde es wagen, Hand an sie zu legen, wie oft sie ihnen auch ins Wort fiel oder sie gar zurechtwies. „Komm mit vor Vaelundars Esse, und sieh selbst. Deine starken Arme und zupackenden Hände sind ebenfalls willkommen.“
Selbst das schluckte Lyghdar. Schweigsam folgte er, mit düsterer Miene und angespannten Kiefermuskeln; aber er folgte.
So standen sie kurz darauf in Vaelundars Feldwerkstatt um Aedhwyn herum, der auf einem niedrigen, robusten Holztisch aufgebahrt lag: der Großkönig an der rechten, Lyghdar an der linken Schulter, Hraedlin und Hwyrdun in Kniehöhe; Gwynnar und Khadmyr hielten sich am Fußende bereit. Aedhwyn war mittlerweile wieder halbwegs zur Besinnung gekommen, wie sehr man während des Transports auch versucht hatte, genau dies zu vermeiden.
„Bastarde“, brachte er mühsam hervor, „was habt ihr mit mir im Sinn?“
Argwöhnisch, mit Fieberglanz auf den Augen, blickte er um sich. Im Hintergrund werkelte Vaelundars hinkende Gestalt an der Esse. Als er einen flüchtigen Blick über die Schulter warf, wurde eine über die rechte Gesichtsseite gespannte Augenklappe aus schwarzem Leder sichtbar.
Schließlich trat eine große, behäbige Frauengestalt links neben ihn und verschränkte die Arme vor der ausladenden Brust. In ihrem Blick spiegelte sich milde Teilnahmslosigkeit.
„Aedhwyn.“
Und da eine Antwort ausblieb, fügte sie an:
„Wißt Ihr, wer ich bin, König Aedhwyn?“
Immer noch zögerlich, entgegnete der Angesprochene:
„Yldrun. Was beim....“
„Sein Verstand ist klarer als mir lieb ist“, seufzte die Heilerin, indem sie ihm den Rücken zuwandte. „So sei es denn. – Vaelundar?“
Der Schmied nahm einen Gegenstand aus dem Feuer der Esse. Prüfend musterte er die nach Art eines Dolchs geformte, jetzt dunkelrot glühende Klinge, die Brygida ihm auf Yldruns Geheiß kurz zuvor überbracht hatte.
„Noch nicht ganz, Yldrun.“
„Will mir jemand erklären, was hier gespielt wird?“ knurrte Lyghdar ungehalten, als Vaelundar die Klinge wieder in die Esse legte und sich anschickte, das Feuer aufzufachen.
„Vor vielen Jahren“, ließ Yldrun nach kurzem Schweigen verlauten, „als ich noch eine Gehilfin Yghias war, unternahm Bryannar jenen Feldzug gegen die Masgadhrim, von dem er selbst nicht mehr lebend zurückkam. Aber außer Bryannars Leichnam führte das vandrische Heer auch eine ansehnliche Schar Gefangener mit ins Winterquartier. Einer von ihnen war der alte Xailyppo. Als Yghia von seinen Heilkenntnissen erfuhr, für die er unter den Masgadhrim berühmt war, kaufte sie ihn in ihren Dienst. Nun befand sich unter den wenigen Dingen, die er mit sich führte, ein Werkzeug, das er – und nur er! – zum Stillen des Blutes zu verwenden wußte; in dieser Kunst unterwies er Yghia, und von ihr habe ich selbst sie gelernt. Jenes....“
„Yldrun!“
Die Angesprochene drehte sich um. Zwischen Vaelundars Gesicht und dem ihren ragte das Messer auf, dessen Griff der Schmied mit der rechten Faust umklammert hielt. Er hatte den ledernen Schutz jetzt aufgeklappt, und in beiden Augen spiegelte sich metallene Glut, rot wie die eisige Sonne an einem klaren Morgen im Mittwinter.
„Warte noch ein klein wenig....“
Vorsichtig nahm die Heilerin das Messer aus Vaelundars Hand. Bei näherem Hinsehen wäre erkennbar gewesen, daß sich eine eingravierte Schlange um den beinernen Griff wand.
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