Du bestehst aus Erinnerungen , hatte Bellzazar ihm erklärt. Wenn Cohen darüber nachdachte, machte das sogar reichlich Sinn. Geister hatten keine Form, nicht nach seinem Wissen, er hingegen war das Abbild eines Mannes und eines Lebens, das nicht allzu lang her schien.
Aber warum fühlte er den Blutdrachen nicht mehr? Er erinnerte sich an das Gefühl des starken Bandes zwischen ihnen, die unerschütterliche Anziehung, die sie immer zueinander geführt hatte, doch er konnte sie nicht fühlen.
Ausatmend lehnte er den Kopf an die Felswand und betrachtete den monderhellten Wald vor der Höhle, ohne zu wissen, wo er sich eigentlich befand. In welchem Land er gestrandet war, in welcher Richtung Nohva lag. Wie viel Zeit vergangen ist.
Sein Körper saß im Schatten, von draußen konnte ihn niemand sehen, aber er hatte den einzigen Eingang im Blick. Er fragte sich, wo Desiderius gerade war, was er tat, wie es ihm ergangen war.
Ob … er ihn vermisste.
Friedlich schlief das schwarze Wolfskind in Cohens Schoß, er ließ die Finger durch das struppige Fell gleiten. Der Leib des Welpen war ganz warm. Die einzige Wärme, die Cohen fühlen konnte.
Was für eine Ironie, er konnte nur denjenigen spüren, den er verabscheuen wollte, für … einfach alles. Fast so groß war die Ironie, dass er ihn beschützen musste. Nicht um seinetwillen, sondern wegen Desiderius.
Cohen atmete tief durch und blickte auf den Fellknäuel in seinem Schoß herab. Der Welpe sah nicht annähernd so niedlich aus wie man sich ein Wolfskind vorstellte. Nein, denn dies war kein normaler Wolf, er war ein Abbild der Höllenhunde, ein Wesen aus der Unterwelt. Mit glanzlosem Fell, das ihm stellenweise ausfiel, vernarbten Ohren und Schnauze, stets zurückgezogenen Lefzen, als zeige er durchweg, auch im Schlaf, seine abgebrochenen Reißzähne. Spitze Knochen stachen unter einer schuppigen, dünnen Haut hervor. Kein niedlicher Welpe, sondern ein Monster.
Und doch konnte Cohen an ihm nichts hässlich finden. Es war Bellzazar. Und Bellzazar war eben einfach … Cohen seufzte wieder schwer … er war eben einfach Bellzazar.
Weder gut noch böse, weder schön noch hässlich. Nicht irdisch, und deshalb nicht mit etwas Irdischem zu vergleichen. Göttlich und dämonisch zugleich. Einst das mächtigste aller Wesen, nun schutzlos und winzig in seinem Schoß.
Das Tor zu Cohens Vergangenheit. Das Tor zu unzähligen Welten, Reichen und Geistern. Gott der Toten, Fürst der Unterwelt, Märtyrer. Er schien so viel zu sein, doch im Moment war er nur ein winziges Haarbüschel, verletzlich und angreifbar.
Er hatte das selbst aus sich gemacht, um am Ende doch seinen Bruder zu retten. Er hatte alles geopfert, seine ganze Macht, um den Einen zu schützen, den er liebte.
Ein wenig Ehrfurcht hatte Cohen vor ihm wegen dieser Entscheidung, aber nicht genug, um ihm andere Dinge zu verzeihen.
»Ich wünschte, du könntest in dieser Gestalt bleiben«, flüsterte er und kraulte Bellzazar hinter den Öhrchen, deren Spitzen erschöpft eingeknickt waren. »Es ist einfacher, dich in dieser Gestalt nicht zu hassen.«
Der Welpe schnaufte schwer im Schlaf, als hätte er ihm zugehört und würde bedauernd seufzen.
Andererseits wünschte Cohen, er könnte Bellzazar dazu befragen, was Cohen jetzt genau war.
Natürlich ein Geist. Aber was bedeutete es? Man wacht ja nicht einfach auf, bemerkt, dass man als Geist wiederauferstanden ist, und findet sich einfach damit ab.
Cohen fand sich nicht damit ab, er wüsste gern, was es genau bedeutet, ein Geist zu sein. War er ein Schatten, ein …
Er » zerdachte« wieder.
Als ihm Bellzazars Bezeichnung in den Kopf kam, musste er leise über sich selbst lachen. »Zerdenken«. Ob es dieses Wort überhaupt gab? Nun, wenn nicht, so beschrieb es dennoch genau das, was er gerne mal tat.
Er hob die Hand und betrachtete sie eine Weile im Mondlicht. Sie war nicht durchsichtig, sie war nicht blau, sie sah aus, wie er sie in Erinnerung hatte, er fühlte sie, wie er sie immer gefühlt hatte, als Teil von sich, obwohl sein Körper …
Ein kalter Hauch rieselte seinen Nacken hinab über den Rücken und er schloss die Augen, um den Gedanken zu vertreiben. Es behagte ihm ganz und gar nicht, dass er sich vermutlich irgendwo selbst ausgraben konnte.
Oder hatte Desiderius ihn wohlmöglich verbrannt und seine Asche im Wind verstreut?
Was war … aus seinem Körper geworden?
Bei den Göttern! Cohen rieb sich das Gesicht und verscheuchte die Überlegung, da sie ihm schwer aufs Gemüt schlug. Es kam ihm unwirklich vor, hier zu sitzen, und sich darüber klar zu werden, dass er hier ohne seinen Körper saß. Dass er … ohne diesen existieren konnte.
Und was mit seinen eigenen Überresten geschehen ist.
Ein schrecklicher Gedanke, den niemals jemand durchdenken sollte.
Er hoffte, dass man ihn verbrannt hatte, dass seine Asche im Wind verstreut worden ist, denn er würde vermutlich durchdrehen, wenn er seine Leiche ausgraben könnte.
Oder auch nur vor seinem eigenen Grab zu stehen.
Der Wolf rieb seinen Kopf an Cohens Bauch und witterte mit geschlossenen Augen, als träumte er von einem köstlichen Mahl. Nachdenklich blickte Cohen auf ihn hinab und versuchte, ihn mit Streicheleinheiten wieder zum Schlafen zu bringen. Er sorgte sich, der Kleine sah so schwach aus, als würde er jeden Augenblick seinen letzten schweren Atemzug tun. Und damit auch der König von Nohva.
Und was geschähe wohl, würde das Symbol der Einheit und Freiheit sterben? Was geschähe mit Nohva – und dem Rest ihrer Welt? Wer würde die Krone erben? Würde der Frieden fortbestehen?
Cohen wusste es nicht, er hatte aufgehört, sie zu beobachten, es war zu schmerzhaft gewesen, nicht bei ihnen sein zu können. Desiderius mit Wexmell, wie glücklich sie waren, wie sie ihre Söhne und Cohens Sohn aufzogen. Er wäre gern ein Teil davon gewesen.
Sein Sohn … wie alt er jetzt wohl war? Wie sah er aus? Wie war er wohl?
Ein heißer Schmerz fuhr plötzlich durch Cohens Bein, durchbrach seine melancholischen Gedanken und ließ ihn erschrocken keuchen. Er wollte aufspringen, aber als er an sich hinabsah, hielt er verwundert inne.
Der Welpe hatte sich in seinem Schenkel verbissen und saugte genüsslich wie an der Zitze seiner Mutter, die kleinen Vorderpfoten gegen ihn gedrückt, als wollte er ihn von sich schieben.
Cohen runzelte die Stirn, bewegte sich aber nicht, er hatte das Gefühl, dass es wichtig für Bellzazar war, damit er überlebte. Zögerlich legte Cohen die Hand auf Bellzazars Kopf und ließ ihn trinken.
Natürlich trank er nicht Cohens Blut, denn Cohen konnte nicht mehr bluten, er besaß keinen Leib. Aber irgendetwas trank Bellzazar von ihm, etwas, das ihn müde werden ließ, je mehr ihm davon abgesaugt wurde.
Magie?
Vielleicht. Vielleicht war es das, aus was er jetzt bestand. Statt Fleisch und Blut, besaß er nun einen Leib aus Magie. Vielleicht waren Seelen pure Magie. Vielleicht lebte in jedem Lebewesen Magie, in Form einer unsterblichen Seele.
Das ergab für Cohen sogar einen Sinn. Und damit könnte er sich abfinden. Zumindest wüsste er dann, aus was er bestand und was er jetzt war.
Er war Magie. Er war eine Erinnerung an ein vergangenes Leben in einem Körper aus Magie.
Das waren Geister: Erinnerungen und Magie.
Das war er nun. Eine Seele, befreit von ihrer sterblichen Hülle, aber immer noch existent.
Etwas entspannter lehnte er sich zurück, als hätte Bellzazar ihm mit dem Aussaugen seiner Magie auch seine schlechten Gedanken und Sorgen getrunken, ihn davon befreit. Cohen streichelte dem Wolf über die Ohren, während dieser sich von ihm nährte.
»Nein! Also das nenne ich aufopferungsbereit!«
Cohen fuhr erschrocken herum, als in den Schatten die klangvolle, schöne Stimme ertönte. Sie kam aus dem Inneren der Höhle.
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