Billy Remie
Im Land der Schatten
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Inhaltsverzeichnis
Titel Billy Remie Im Land der Schatten Dieses ebook wurde erstellt bei
Prolog
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Epilog
Impressum neobooks
Das Reich der Götter bestand aus kristallenem Glas. Vor seinem inneren Auge sah er noch das Lichtspiel, das durch die Fenster fiel und bunt auf den hellen Marmorböden tanzte, während in seinem Kopf nun reger Schwindel herrschte.
Er war die Schwere der Welt der Sterblichen nicht gewöhnt, er hatte sie nie erleben dürfen, und nun, da er ohne Vorwarnung aus dem Himmel gestoßen worden war, drohte ihn diese Schwere zu erdrücken.
Im Reich der Götter gab es nur Leichtigkeit, Liebe und Wärme, mehr hatte er nie kennen gelernt. Sein einziges Wissen über die Welt der Sterblichen beschränkte sich auf die Schriftrollen, die er auf seinen heimlichen Gängen durch die Bibliothek des Himmelsschlosses angesehen hatte. Er kam nicht umhin sich zu fragen, wie die Sterblichen diese Schwere all die Jahre ihres Daseins ertrugen. Für ihn war es purer Schmerz. In seinen Venen floss plötzlich Blut, das er als Gottkind nicht gebraucht hatte, und es fühlte sich wie Sand in seinem Körper an. Rauer Sand, der durch trockene Venen floss. Er wollte schreien vor Schmerzen, doch sein Mund wollte sich nicht öffnen.
Und es war kalt! So kalt! Im Reich der Götter gab es keine Kälte, kein Wetter.
Die Last dieser Welt drückte ihn unermüdlich nieder, sodass er nicht imstande war, auch nur einen Finger zu rühren. Er musste atmen, um zu leben, auch das war ihm unbekannt. Diese Welt schien ihn erdrücken zu wollen, als stünde ihr einziges Bestreben darin, seinen Tod herbeizuführen.
Aber sterben konnte er nicht. Nicht mehr. Er verstand nur einfach nicht, wieso. Von Geburt an hatte er sich beweisen müssen, ohne zu verstehen, was falsch an ihm war. Dabei hatte er stets nur das getan, was auch seine Brüder taten: er strebte die Liebe zu den Schöpfern an. Doch er wollte mehr als nur einer unter vielen sein, also war sein größtes Ziel gewesen, die Schöpfer zu beeindrucken, sie von seinem Können zu überzeugen. Er wollte ihr Lieblingsgott werden. Dafür musste er fallen.
»Geh und beweise dich, mein Sohn«, haben sie ihm aufgetragen. »Dann darfst du zu uns zurückkehren.«
Er hatte die Schöpfer mehr geliebt als alles andere, aber sie sahen in ihm stets nur eine große Bedrohung. Von dem Tage an, als er geboren wurde, war sein Schicksal bereits besiegelt. Während alle anderen die Wahl zwischen Göttlich und Sterblich treffen durften, wurde er nun mit der Unsterblichkeit bestraft, für ein Vergehen, das er selbst nicht begangen hatte.
Und trotzdem liebte er sie. Liebte die Schöpfer und das Reich des Himmels so sehr, dass er, trotz der Schmerzen, die rot unterlaufenen Augen aufzwang, um zum Himmel hinauf zu blicken, von wo er gekommen war. Er fand Trost im Anblick des wolkenverhangenen Himmels. Er lächelte, doch vor Erschöpfung fielen seine Augen wieder zu.
Es tat so unendlich weh, ein Sterblicher zu sein, dass er es nicht in Worte fassen konnte. Das Leben begann für ihn als einziger, großer Schmerz ...
Und dann war da ein dunkler Schatten, der sich über sein Gesicht legte. Ein schweres Schnauben ertönte über ihm.
Müde zwang er erneut seine Augen auf. Ein großer Hengst ragte über seinem am Boden liegenden Körper, die samtweiche Schnauze des Rosses war so schwarz wie das Portal zur Unterwelt. Das Tier blähte die Nüstern auf und schnupperte an ihm.
Lederne Zügel knirschten, als der Reiter sein Pferd herumlenkte und auf den Gefallenen hinabsah.
»Bei den Göttern ...«, hauchte der Reiter ungläubig.
Er war ein junger Sterblicher, mit dunklen Locken, schulterlang, die er mit einem braunen Lederband hochgebunden trug, einige Strähnen hingen ihm im Schlamm verkrusteten Gesicht.
Als der Gefallene den Reiter erblickte, seine stechend grünen Augen in seinem markanten Gesicht, da musste er unwillkürlich lächeln. Trotz der Qual erkannte er die Schönheit dieser Welt: die sterblichen Wesen darin.
***
Lugrain hatte es nicht glauben können, als er bei der Jagd mit seinen Brüdern einen Himmelskörper hinabstürzen sah. Seine Brüder wollten ihm keine Beachtung schenken, aber Lugrain war zu neugierig gewesen. Erst einen Mond zuvor hatte die weise Stammesmutter eine Vision gehabt. Sie erzählte ihrem Stamm von einem Stern, der am Tage vom Himmel fallen würde.
Lugrain sollte nicht überrascht sein, bisher hatte die Stammesmutter doch immer Recht behalten. Jedoch waren ihre Visionen immer auf verschiedene Weisen zu deuten. Denn der Stern war nicht aus Gestein, wie die üblichen Himmelskörper, sondern ein Wesen aus Fleisch und Blut. Ein gefallener Engel, gesandt von den Göttern, wie Lugrain glaubte.
Er schwang das lange Bein über den Hals seines treuen Pferdes und landete mit einem ›Platsch‹ im aufgeweichten Boden.
Mit dem Rücken lag der Gefallene auf einer Lichtung im braunen Matsch, um ihn herum war eine Kuhle, die davon zeugte, dass sein Aufprall hart gewesen sein musste.
Lugrain stützte den Jagdspeer auf dem Boden ab und ging neben der Kuhle in die Knie.
Das Wesen war ein strammer junger Mann, etwa im Alter von sechzehn überstandenen Wintern; nur drei Winter jünger als Lugrain selbst. Er war groß und sein nackter Körper blass, er schien ausschließlich aus Muskeln und Sehen zu bestehen, keine Narben, er war so unberührt wie eine frisch erblühte Sommerblume. Kurzes Haar, so dunkel wie Rabenfedern, helle Augen, blau mit einer gräulichen Blässe, die fiebrig schimmerten.
Der Junge sah mit einem erschöpften Lächeln zu Lugrain auf, seine schmalen Lippen bewegten sich, aber kein Ton kam heraus. Er schien verletzt, aber Lugrain konnte keine äußeren Wunden ausmachen. Es grenze ohnehin an ein Wunder, dass der Gefallene den Sturz überlebt hatte.
Über der Lichtung, auf der sich die beiden Männer befanden, zogen sich die dunklen Wolken zusammen, die schon seit drei Mondauf- und Monduntergängen drohend über Nohva hingen; es fing leicht zu regnen an. Die ersten dünnen Tropfen landeten auf den scharfkantigen Gesichtszügen des Gefallenen. Er zitterte, seine Lippen wurden allmählich blau.
Lugrain rammte seinen Speer in den Boden und löste den Knoten seines Umhangs, der aus dickem Wolfspelz bestand. Einen Arm unter den zitternden Jungen schiebend, brachte er ihn in eine aufrechte Position und wickelte ihm den Pelz um die Schultern, ungeachtet der Tatsache, dass er selbst nur noch mit seinem Lendenleibchen dem kalten Regen ausgesetzt war.
Mit Fingern, die sich zusammenkrampften, zog der Gefallene den Umhang enger um sich und lehnte seinen kraftlosen Körper gegen Lugrains warmes Fleisch.
Lugrain beschloss, ihn zum Stamm zu bringen. Die Stammesmutter würde schon wissen, was sie nun mit dem Gefallenen tun sollte. Sein Volk mochte keine Fremden in ihrer Mitte, doch Lugrain sah darüber hinweg, weil die Stammesmutter eine Vision von diesem Ereignis gehabt hatte. Lugrain fand es weiterhin klüger, ihn mitzunehmen, bevor andere Stämme von anderen Völkern ihn hier schutzlos fanden.
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