Doch bevor er den Jungen hochheben und auf den Rücken seines Pferdes setzen konnte, erklang eine sanfte Stimme, so lieblich wie ein Glockenspiel im Wind: »Ihr habt ein großes Herz, junger Sterblicher.«
Erschrocken sah Lugrain auf, doch ihn blendete ein plötzlich aufkommendes Licht.
Vor ihnen stand der Umriss eines großen Mannes, dessen Rücken von einem gelben Schein angestrahlt wurde, der so kräftig war, dass Lugrain die Augen zusammenpetzen musste.
»Wer seid Ihr?«, fragte Lugrain in der Gemeinsprache, da er die Sprache der Götter nicht beherrschte.
»Einer der fünf Schöpfer dieser Welt, Sterblicher.«
Lugrain blinzelte nur in den Lichtstrahl. Er wusste nicht, ob er den Worten Glauben schenken konnte.
»Reitet zurück und sprecht mit Eurer Stammesmutter, Sterblicher«, trug das leuchtende Wesen freundlich auf. »Sagt zu ihr, das Himmelsreich wird Eurem Stamm gewogen sein, wenn er unserem gefallenen Sohn dabei hilft, die Welt der Sterblichen kennen zu lernen.«
Lugrain war immer noch nicht im Stande, etwas zu sagen. Doch die Worte aus dem Mund des Wesens waren ohnehin bedeutungslos, da Lugrain bereits für sich entschieden hatte, dem Hilflosen zu helfen.
»Ihr müsst ihm beibringen, in dieser Welt zu überleben, bevor er sich auf seine Reise begeben kann«, erklärte das Wesen im Lichtstrahl. Es drehte sich um und trug Lugrain freundlich jedoch trotzdem nachdrücklich auf: »Geht nun, Sterblicher, und kümmert Euch gut um diesen Halbgott, denn eines Tages hängt vielleicht das Schicksal eurer Welt von ihm ab.«
Teil1: Insel der Vergangenheit.
»Folge den Spuren der Vergangenheit und du wirst verstehen. Doch die Grenze zwischen Lüge und Wahrheit verschwimmt, je nachdem, wer die Geschichte erzählt.«
Nach einem langen Ritt durch unbewohntes Gebiet, schlugen sie ihr Lager nahe einer Süßwasserquelle auf. Er beugte sich hinab zu dem Quell, der aus einer grauen Felsspalte floss, und schöpfte mit der Hand Wasser in seinen Mund, das im letzten Schein der Sonne glitzerte.
Nachdem er seinen Durst gestillt hatte, richtete sich der in schwarz gekleidete Mann auf und fuhr sich mit dem Handrücken über die schmalen Lippen.
Er sah sich um.
Dichter Urwald drängte sich um ihn, wechselnde Schatten in den bunten Baumkronen, der Duft von feuchtem Boden, der Gestank eines nahen liegenden Moors, klagende Rufe verschiedener Raubvögel, das düstere Fauchen einer Nachtschattenkatze.
Beinahe könnte er sich vorstellen, in der Heimat zu sein. Aber leider nur beinahe. Die Heimat lag so weit entfernt, dass auch nur der leiseste Gedanke an sie, seine Stimmung verdüsterte.
Wobei seine Laune zurzeit ohnehin mieser Natur war.
Nachdem er seinen Wasserschlauch mit kühlem Wasser aus der Quelle aufgefüllt hatte, ging er zum Lager zurück. Sie hatten es absichtlich einige Fußschritte entfernt aufgeschlagen, damit sie die Tierwelt nicht von ihrem Wasserplatz vertrieben.
Vier seiner Gefährten tummelten sich im aufgeschlagenen Lager. Der Jäger entzündete das Feuer für seine erlegte Beute – zwei hundsgroße Echsen –, der große Barbar und seine Gefährtin mit den spitzen Ohren tränkten die ermüdeten Pferde, und der Schurke saß auf einem überwucherten Stück Felsen und schärfte die Klingen seiner Krummschwerter mit einem Wetzstein, sein zotteliges und braunes Haar verbarg halb sein schmales Gesicht, nur die Nasenspitze und sein Ziegenbart waren zu erkennen. Neben dem Schurken im hohen Gras lag ein greinendes Bündel, das nach Aufmerksamkeit und Essen verlangte. Um das Bündel herum, war die schwarzweiße Nachtschattenkatze geschlungen, die jedes Mal fauchte, wenn auch nur jemand zu nahe an dem Kind vorbeilief.
Mit Unbehagen eilte er an dem Kind und ihrer Beschützerin vorbei, er ignorierte das Fauchen aus dem wolfsähnlichen Maul – und die giftigen Zähne, die in den Kiefern lauerten – und ging hinüber zum Feuer.
Der junge Jäger, so drahtig und dünn, dass er fast schon lieblich wirkte, hob nur kurz den Blick an und nickte ihm stumm zu.
Alle waren schlechter Laune, alle hatten eine lange Reise hinter sich, und es hob nicht gerade die allgemeine Stimmung, dass er sie nun durch dieses heimtückische Gebiet führte. Giftspinnen und Giftschlangen lauerten hier überall, in jedem noch so kleinsten Grasbüschel. Ganz zu schweigen von den großen Echsen, die äußerst aggressiv auf Eindringlinge reagierten.
Keiner seiner Gefährten wollte hier sein, das ließen sie ihn auch deutlich spüren, sie straften ihn mit misstrauischen Blicken und eisernem Schweigen. Doch das kümmert ihn nicht, auch nicht die Gefahr, in die er sie alle brachte, weil sein ganzes Bestreben nur auf diesen einen Tag hingearbeitet hatte. Nun stand der ersehnte Tag so kurz bevor, er war so kurz vor dem Ziel und er erkannte …, dass es zu einfach gewesen war.
Deshalb war seine Stimmung so düster, weil sein Verstand und die Erfahrung ihm sagten, dass es zu einfach gewesen war. Irgendetwas Schreckliches würde geschehen, noch bevor sie ihr Ziel erreichten, er spürte es tief in den Knochen.
Er setzte sich ans Feuer und beobachtete den jungen Jäger, wie dieser die Echsen hintereinander auf einen gewaltigen Stock steckte und sie auf die Vorrichtung über dem Lagerfeuer hing. Der Duft von brutzelnden Schuppen stieg bald auf und ließ seinen Magen knurren.
»Neun Monate auf See«, klagte der Jäger und stocherte in der Glut des Feuers, sodass es Funken sprühte. »Neun Monate nur Pökelfleisch und Fisch – Und jetzt nur Echsen. Ich hatte auch auf Wildgemüse oder wenigstens Obst gehofft.«
»Es gibt reichlich Obst hier«, erwiderte er auf das Genörgel des Jägers hin.
»Aber keines, das mich nicht nach dem Verzehr umbringt.«
Grinsend lehnte er sich zurück und stützte seinen strammen Körper auf die spitzen Ellenbogen. »Ihr habt vielleicht einfach zu hohe Ansprüche, junger Jäger.«
Der dunkelhaarige Jäger warf ihm aus großen Augen einen entnervten Blick zu. Gleich darauf wurden die zarten Züge in dem jungen Gesicht melancholisch. Ein bedauernder Blick starrte in die züngelnden Flammen. »Wisst Ihr, was ich am meisten vermisse? Die Törtchen. Im Palast gab es immer Törtchen. Törtchen zusammen mit frischer, noch warmer Kuhmilch. Wisst Ihr, wie lange wir keine Milch mehr getrunken haben?«
Den Blick zu Boden richtend, schüttelte er den Kopf. Er konnte sich tatsächlich nicht mehr daran erinnern, wann er das letzte Mal etwas anderes als in der Wildnis entsprungenes Wasser getrunken hatte. Oder – wie in den letzten Monaten auf hoher See, nachdem das letzte Fass mit Trinkwasser geleert war – seinen eigenen Urin.
»Es ist eine Ewigkeit her«, flüsterte der Jäger ermüdet. Wie ein Kind saß er in der Hocke vor dem Feuer, die Beine mit einem Arm umschlungen, das Kinn auf den Knien ruhend, während seine andere Hand mit einem Stock im Feuer herumstocherte, als sähe er einen Gegner in den Flammen, den er erstechen wollte.
Ja, die letzten Jahre waren nicht gut zu ihnen gewesen. Angefangen mit Verrat, Flucht und schließlich ihre Verbannung aus der eigenen Heimat. Und keiner von ihnen hatte auch nur geahnt, wie beschwerlich so eine Seereise sein würde. Aber welche Wahl hatten sie denn schlussendlich gehabt? Einvernehmlich hatten sie zugestimmt, die Heimat hinter sich zu lassen, ohne zu wissen, was vor ihnen lag. Und alles hätte gut werden können, hätten sie nur bedacht, dass ihnen auf halbem Wege die Vorräte ausgingen. Keiner hätte voraussehen können, dass sie gleich drei Tage hinter einander in heftige Seestürme gerieten und die Hälfte an Fracht verloren. Und dann diese Krankheit, die die Schiffsbesatzung ausgelöscht hatte, herbeigeführt von zu viel Fleisch und zu wenig Obst, bis keiner außer ihnen mehr übrig war, sodass sie notgedrungen die Kunst des Segelns selbst erlernen mussten. Was nicht einfach gewesen war, jeder von ihnen hatte mit anpacken müssen.
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