»Wir dürfen nicht vergessen, welch Glück wir hatten«, sprach er auf den jungen Jäger ein.
»Er hat Recht.« Der Schurke stand auf einmal neben ihnen, seine dunkle Stimme wies einen schnurrenden Akzent auf. Mit seiner Anwesenheit leuchteten sogleich die Augen des jungen Jägers glücklich auf. Doch das Strahlen wurde nicht erwidert, der Schurke beachtete es gar nicht. »Wir leben noch, wir sollten zusehen, dass es so bleibt.«
Der Schurke hob einen Bogen vom Boden auf, dazu die letzten verbliebenen Pfeile in einem halbleeren Köcher, den er sich über den Rücken hing. »Ich spähe die Gegend aus. Es wird bald dunkel, und ich will nicht von irgendwelchen Wilden überrascht werden, oder diversen Raubtieren zum Opfer fallen.«
»Du solltest nicht alleine gehen«, warf der Jäger besorgt ein.
»Allein bin ich schneller und leiser .«
Schamesröte stieg dem jungen Jäger in die Wangen, als er schnell den Kopf senkte. Der Schurke hatte niemand im Speziellen angesprochen, doch allgemein war bekannt, dass der Jäger in ihrer Gemeinschaft der Redseligste war, und selten still sein konnte.
»Wo sind eigentlich unsere erlauchten Anführer?«, fragte er seine Gefährten schließlich.
Der Schurke schnaubte belustigt. Als er antwortete, verzogen sich seine Mundwinkel zu einem schiefen Grinsen: »Sie ›jagen.‹ «
***
Spätabendlicher Wind raschelte durch die bunten Blätter des Waldes, Sonnenschein fiel durch die Baumkronen und zeichnete Schattenspiele auf das Gesicht eines scheinbar schlafenden Mannes. Die Melodie der Tierwelt wehte zu seinem Ohr. Das Summen der Fliegen, das Quaken der Amphibien nahe dem Moor, das Singen der Vögel in den Ästen weit über seinem Kopf, sein eigenes Tier tief in seinem Selbst vergraben, das grollend schlummerte.
Ruhe. Einsamkeit. Erholsamer Schlaf, nach einem Kraftakt, der Erfüllung geschenkt hatte.
Milder Abendwind, der über seinen verschwitzten Körper glitt, ohne das Auskühlen zu spüren, dank des Feuers in seiner Seele.
Sich selbst spüren. Wegdämmern, ohne sich im festen Schlaf zu verlieren. Immer wachsam.
Die Präsenzen des Waldes spüren, als seien sie Teil von einem. Die Augen geschlossen halten, den Puls hinunter atmen, trotz zuckenden Lenden nicht die gewillten Finger zur pochenden Männlichkeit bewegen.
So tun, als würde er schlafen.
Sinne schärfen. Spüren, hören, sogar schmecken, wo sich der andere befand. Die Augen auf sich fühlen, die aus dem Unterholz herausstarrten. Hören, wie sich Schatten durch das Dickicht bewegten. Den Duft schmecken, den er auf der Haut des anderen hinterlassen hatte.
Desiderius runzelte belustigt die Stirn, während er krampfhaft versuchte, sich schlafend zu stellen.
Oh, er täuschte den anderen Mann nicht von Beginn an. Er hatte tatsächlich geschlafen. Doch ein halbes Leben als Vagabund hatte ihn gelehrt, jede Bewegung, jede Veränderung um sich herum, wahrzunehmen, auch im tiefsten Schlaf. Manchmal vermisste er die Einsamkeit seines früheren Daseins, die Freiheit, hinzugehen, wohin er wollte. Allein. Und doch wollte er seine Freunde, seine Familie, nicht mehr missen. Selbst dann, wenn er wieder spürte, wie sehr ein Mann manchmal das Alleinsein benötigte.
Gefühle zu zulassen war harte Arbeit, und Emotionen konnten reichlich anstrengend sein. Sie stets richtig zu deuten war schwer. Und doch hatte er sich mittlerweile gut daran gewöhnt. Aber mit anderen Lebewesen, Tag ein und Tag aus, zu jeder Tages- und Nachtzeit zusammen zu sein, zerrte an seinen Nerven. Der Umgang mit anderen war stets schwer für ihn gewesen, nicht einmal die Liebe und Freundschaft zu anderen hatten ihn davor bewahrt. So war er nun mal einfach, er konnte nicht ständig unter anderen Lebewesen sein, er genoss die Zeit mit sich alleine ganz gerne, und sei es nur für wenige Augenblicke, in denen er vor sich hindösen konnte. Nur er und das Tier in ihm, das niemals verschwand.
Er vermisste es nicht unbedingt, nur für sich selbst da zu sein, und doch spürte er gelegentlich seine Geduld schwinden; seine Laune wurde schlechter, je öfter er sich mit anderen Lebensformen umgab. Dann, aber wirklich nur dann, brauchte er eine Pause und Zeit für sich allein. Seine Gefährten wussten darum und ließen ihm seinen Freiraum. Trotzdem hatte er jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn er sich zurückzog. Jedoch war es besser, wenn er vor Gesellschaft floh, als seine düstere Stimmung ungewollt grob an seinen Freunden auszulassen. Oder – Schöpfer bewahre – an seinem innigen Geliebten.
»Ha!« Der Schatten sprang aus dem Dickicht neben Desiderius’ Schlafstätte – einem monströsen Mammutbaum – und warf sich auf ihn.
Schmunzelnd fing er den geschmeidigen Körper des anderen Mannes noch im Flug ab, warf ihn herum und rollte sich über ihn.
»Ach nein, das ist so ungerecht!« Der Blonde mit dem gelockten Goldhaar trommelte mit zwei eisernen Fäusten auf Desiderius‘ nackte Brust. »Wie kannst du das gewusst haben!«
Leise in sich hineinlachend, schob Desiderius seine Hüfte zwischen die Schenkel des Angreifers.
»Ich habe es genauso gemacht, wie du es mir gezeigt hast!«, beklagte sich Wexmell.
Es stimmte, er hatte sich gut angestellt. Mit einem mitfühlenden Lächeln beugte sich Desiderius zu ihm hinab und fuhr die Linien des vollen Mundes mit der Zungenspitze nach, ehe er nachsichtig versicherte: »Es ist nicht deine Schuld, dass ich eine gute Wahrnehmung besitze. Du hast dich gut geschlagen, ich hätte dich fast nicht kommen gehört.«
Er warf ihm Krümel zu, obwohl nichts davon stimmte. Weshalb er auch der falsche Mann dafür war, um Wexmell irgendetwas beizubringen. Desiderius war gegenüber seinem Prinzen zu nachsichtig, zu inkonsequent. Wenn Wexmell etwas lernen sollte, musste er ihn an seine Grenzen bringen. Nicht nur beim Schleichen, nicht nur beim Jagen, vor allem im Schwertkampf. Nur gut, dass Bellzazar den jungen Prinzen im Zweikampf trainierte. Seither war Wexmell viel besser geworden, und die harte Arbeit eines Seemanns hatte ihm einen starken und durchtrainierten Körperbau beschert, sodass es viel leichter für ihn war, größere Schwerter und nun auch Schilde zu führen.
Vergessen war die Niederlage, nachdem Zungenstrich starrten Wexmells eisblaue Augen wollüstig zu Desiderius auf. »Selbst im Schlaf verlierst du nicht an Härte«, bemerkte Wexmell. Seine Worte unterstreichend, rieb er seinen ledernen Waffengürtel über Desiderius’ pochender Männlichkeit, die zwischen ihren Körpern eingeklemmt war.
Ein grollender Laut entrann sich Desiderius’ Kehle. Er schob einen Arm unter Wexmells goldenen Haarschopf und legte sich genüsslich auf dessen Körper. Schlanker, kleiner als sein eigener Leib.
»Du hast mich einfach schlafend allein gelassen«, beklagte sich Desiderius, ohne den Vorwurf wirklich ernst zu meinen. »Nackt, verschwitzt und der wilden Tierwelt ausgeliefert.«
Um Wexmells volle Lippen spielte ein heiterer Ausdruck. »Vergebung, ich ahnte nicht, dass Ihr so schutzlos seid, holde Maid.«
Desiderius schmunzelte düster. »Oh, das wirst du bereuen.«
»Ach ja, wirklich?« In Wexmells Blick lag pure Provokation. »Denkt Ihr, ich habe Angst vor einem nackten Mann, mein edler Ritter?«
An den Rittertitel würde Desiderius sich nie gewöhnen, zumal es jetzt ohnehin keine Bedeutung mehr hatte, ebenso wenig wie Wexmells königliches Blut in seinen Adern. Ob Prinz, Ritter, Dieb, Meuchelmörder, Barbar oder Dämon ... all diese Titel, ob schmeichelhaft oder beleidigend, bedeuten rein gar nichts mehr so weit ab der Heimat. Seit Wexmells vorgetäuschtem Tod und Desiderius’ Verbannung aus Nohva, waren sie alle nur noch eines: Flüchtlinge, die ums Überleben kämpfen mussten.
Desiderius fuhr mit der Hand über Wexmells erhitzte Stirn und strich ihm das goldgelockte Haar zurück. Es war kühl und seidig, ohne eine Spur von spröden Spitzen oder gekräuselten Strähnen. Trotz aller Strapazen verlor Wexmells Erscheinungsbild nicht an Schönheit. Er war so hinreißend perfekt wie eine Statue, bis auf die Narben unter seinem braunen Lederwams, aber selbst die waren in Desiderius’ Augen keine Makel.
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