»Sie sind gleich hier«, stellte Bellzazar mit einem Blick um den dicken, efeubehangenen Baum fest und hob das gewellte Schwert. »Bereit?«
»Warte!« Cohen packte Bellzazars Arm, dabei zuckte er erschrocken zurück. Unter dem Hemd waren nichts als Knochen zu fühlen gewesen.
Verwundert blickte Bellzazar ihn an. »Was ist? Die Zeit drängt. Ich glaube nicht, dass diese Schemen auf uns zu halten, um mit uns zu plaudern.«
Cohen hätte ihm für diesen unnötigen Kommentar gern etwas Bissiges geantwortet, aber er verkniff es sich. »Du brauchst Hilfe. Das hast du selbst gesagt!«
»Ja. Aber wie wir bereits feststellen durften, bist du das nicht.«
Das versetzte Cohens Stolz eine tiefe Delle, er biss die Zähne zusammen, um nichts Unbedachtes zu kontern.
Nicht jetzt, sagte er sich. Er konnte ihm hinterher immer noch ins Gesicht boxen.
»Geh, Cohen«, drängte Bellzazar wieder unerwartet sanft, »ich komme zurecht. Ich kam die letzten Jahre ohne meine frühere Macht zurecht. Ich schwöre dir, unser König ist sicher. Und du musst zurück, das hier ist kein Ort für dich. Je eher du wieder da bist, wo du jetzt hingehörst, je schneller verblasst die Erinnerung.«
Seltsam, als hätte er Cohen in den Kopf geblickt und wüsste ganz genau, was in ihm vorging. Das behagte Cohen überhaupt nicht. Niemand ließ sich gern tief in die Abgründe seiner Seele blicken.
»Die Zeit wird knapp«, beschloss Bellzazar, »los jetzt!«
Er rannte los, an Cohen vorbei zu dem Baum, auf den er Momente zuvor gedeutet hatte, und rief über die Schulter lauthals: »Hier her! Hier bin ich! Holt mich doch, ihr Mistkerle!«
Cohen wollte widersprechen, aber eine andere Sehnsucht übermannte ihn. Die Sehnsucht, wieder zurück an diesen friedlichen Ort zu kehren, der ihm alles Schlechte genommen hatte. Er beruhigte sich damit, dass Bellzazar recht hatte, er war die ganze Zeit ohne seine Macht zurechtgekommen. Vielleicht war er gar nicht so hilflos, wie Cohen befürchtete. Auch ohne seine Macht war er doch recht gerissen. Ihm würde schon nichts geschehen.
Ein schlechtes Gewissen hatte er dennoch, als die Schemen an ihm vorbeizogen und sich um Bellzazar tummelten und dieser schrie: »Jetzt! Cohen! Lauf!«. Er wehrte die Schattenklingen der Schemen ab, kämpfte mit gebleckten Zähnen, als würde jedes Heben seines Schwertes in seinen Armen schmerzen.
Cohen zögerte noch, doch dann riss er sich von dem Anblick los und rannte. Je schneller er im Riss war, je schneller würden sich alle Sorgen legen.
Willst du wirklich feige vor dir selbst davonlaufen? Fragte ihn eine innere Stimme. Er schüttelte sie ab und rannte weiter, bemerkte nebenbei, dass sich das Beben in der Erde längst gelegt hatte.
Der Riss schimmerte genauso wie auf der anderen Seite, kräftig und beinahe blendend, je näher er ihm kam. Doch eines fehlte. Die Anziehung, die er auf der anderen Seite gespürt hatte, war erloschen. Nichts zog ihn zu dem Riss hin, außer seiner inneren Sehnsucht nach Frieden.
Als er schließlich im vollen Lauf absprang und mit Schwung durch den Riss hindurchstoßen wollte, prallte er gegen eine unsichtbare Mauer.
Für einen Moment lag er benommen auf dem Boden, ohne zu wissen, wie ihm geschehen war. Sein Kopf schwirrte. Schmerzen konnte er also noch hervorragend empfinden.
Aber was war geschehen?
Sich den Kopf reibend richtete er sich auf. Anders als erwartet, hatte sich keine plötzliche Wand vor dem Riss aufgetan, er musste an dem Riss selbst abgeprallt sein.
»Verdammt!« Hände packten seine Arme und zogen ihn wieder auf die Beine. »Das ist jetzt…äußerst ungünstig.«
Cohen drehte sich verwirrt zu Bellzazar um. »Was ist passiert?«
Als Bellzazar sichtlich in Erklärungsnot geriet und geflissentlich seinem Blick auswich, konnte Cohen nicht mehr an sich halten.
»Du weißt es nicht?«, rief er fassungslos. »Du? Der Fürst der Unterwelt? Der feine Herr Halbgott weiß nicht, warum das Portal zur Nachwelt nicht passiert werden kann?«
Bellzazar sah ihn an, keinerlei Regung im Gesicht. Cohen schnaufte wütend, ihm lagen so einige wüste Beschimpfungen auf der Zunge. Doch Bellzazar ließ ihn gar nicht zu Wort kommen. Während der nächste Ansturm Erscheinungen aus dem Portal auf sich warten ließ, ging er an Cohen vorbei, direkt auf den Riss zu, runzelte die Stirn und streckte eine Hand danach aus.
Als sein Arm in das silbrige Licht eintauchte, als würde er in weiches Wasser greifen, verstand Cohen gar nichts mehr.
»Hm.« Bellzazar drehte sich die Lippen leckend um. »Es liegt wohl nicht am Riss«, überlegte er murmelnd und musterte Cohen von oben bis unten mit kritischem Blick.
Cohen zuckte unsicher zurück. »Was ist?«
Doch Bellzazar schüttelte nur den Kopf. »Ach nichts. Schätze, du bist hier gefangen.«
Gefangen? Cohen wollte fragen, was das bedeutete, wie das sein konnte, und was bei den Göttern sie tun sollten, um ihn zurückzubringen. Aber alles, was aus seiner Kehle kam, war sein ausgehauchter Atem. Fassungslosigkeit machte ihn sprachlos. Er kam sich mehr denn je wie in einem Alptraum vor.
Bellzazar trat einige Schritte von dem Riss zurück, dann ließ er sich zwischen einer Baumgruppe im weichen Moos auf die Knie nieder, ein Lichtstrahl verfing sich in seinem schwarzen Haar und ließ es fettig glänzen. »Ich muss das Portal jetzt schließen. Bevor noch mehr Erscheinungen auftauchen. Ich bin noch zu schwach, um lange zu kämpfen.«
Cohen wollte protestieren, er wollte noch einmal versuchen, hindurchzugehen. Panik erfasste ihn, Furcht davor, für immer in der Welt der Sterblichen als Geist gefangen zu sein.
»Wenn ich wieder bei Kräften bin«, sagte Bellzazar da jedoch zu ihm und schielte eindringlich zu ihm auf, »dann bringe ich dich zurück. In Ordnung? Es ist alles gut, Cohen. Beruhige dich. Wein nicht immer gleich rum.«
Zuerst hatte Cohen tatsächlich das Aufkommen von Wärme in der Brust gespürt, den Hauch von Vertrauen und einen Funken Hoffnung, doch beim letzten Satz fiel ihm der Kiefer runter. »Du …«
»Stör mich nicht«, unterbrach Bellzazar ihn ruhig und schloss bereits die Augen, um seine Macht zu sammeln. »Das wird auch ohne deine Tiraden schmerzhaft genug für mich.«
Eine freudige Aufregung lag in der Luft, als sie am königlichen Reitplatz eintrafen. Heiterkeit schwängerte die Luft, Gelächter und Geplänkel schwoll an, je näher sie den Zäunen kamen.
Die Festung verfügte über eigene Koppeln innerhalb der Mauern. Sie war groß genug, um Weideplatz für etwa sechzig Pferde zu bieten. Natürlich umfasste die königliche Zucht über mehrere Hundert Pferde, darunter zwei Rassen, die einst ausgestorben und nun nachgezüchtet wurden, mehrere Generationen Mischlinge wurden verpaart, bis die Rassestandards wieder erfüllt waren. Darunter die einst kräftigen und stolzen Kaltblüter aus dem südlichen Gebirge Nohvas und die Edelrasse vergangener Könige aus einem längst vergessenen Zeitalter – große, schnelle und ausdauernde Schlachtrösser, allesamt Nachkommen von Wanderer, dem magischen, unsterblichen Rappen des Königs.
Die meisten Pferde lebten jedoch draußen in den Bergen auf großen Weideflächen auf Berghängen, dem Wetter und der Wildnis ausgeliefert wie Wildpferde, was sie wild und scheu gemacht hatte. Die Jungpferde wurden jedes Jahr im Frühling in die Festung getrieben und zugeritten.
Dies war vor einigen Wochen geschehen, Vaaks war jedes Jahr Zuschauer, wenn die Herde aus Jungpferden über die Brücke über der nebligen Schlucht durch das Festungstor und die gepflasterten Straßen der Stadt getrieben wurden. Alle Bewohner bewunderten an diesem Tag die majestätischen Tiere, Freude lag in der Luft, denn damit wurde der Frühling eingeleitet. Am gleichen Tag öffnete der königliche Sonnenwenden Markt, ein Fest wurde gefeiert. Jedes Jahr.
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