1 ...8 9 10 12 13 14 ...31 Und er fragte sich, was er falsch gemacht hatte, dass er so hart bestraft wurde. Denn alles was er wollte, war … Ruhe. Nach allem, was er durchgemacht hatte, wollte er schlicht die Ewigkeit in Ruhe genießen. Alle Sorgen aus dem Leben vertreiben, alle schlechten Erinnerungen vergessen.
Doch er erlebte gerade alle Ereignisse aus seinem Leben noch einmal. Sie prasselten wie Platzregen auf ihn ein, eine Erinnerung nach der anderen, innerhalb eines einzigen Augenblicks, sodass ihm der Kopf schwirrte und sich sein Herz schmerzhaft zusammenzog, als könnte es all das Leid und den Kummer wirklich nicht noch einmal ertragen.
»Cohen!«
Bellzazars wütender Aufschrei ließ ihn den Kopf hochreißen. Doch noch immer kam ihm alles unwirklich vor. Er blinzelte langsam, betrachtete seine Umgebung wie ein Schlaftrunkener, der sich nicht erinnern konnte, wo er war.
Ausgerechnet jetzt stürzte die Gegenwart auf ihn ein, er wurde sich bewusst, dass er wieder zurück war – und sich alles verändert hatte. Vor allem er selbst. Er spürte instinktiv, dass er nicht mehr hierhergehörte. Hier war kein Platz für ihn, war es nie gewesen. Er hatte noch nie in diese Welt gehört, hatte einfach nicht dorthin gepasst.
Diese Erkenntnis traf ihn hart, er glaubte, daran zu ersticken.
Wie unbedeutend konnte man sich fühlen? Cohen konnte sich diese Frage selbst beantworten. Ihm war es, als wäre er so wertlos, dass er sich gerade tatsächlich in Luft auflöste…
»Verdammt und zugenäht! Cohen!«
Cohen schüttelte den Kopf, um sich zu besinnen. Bellzazar befreite sich aus einem weiteren engen Kreis wütender Schemen und stampfte durch den Wald auf Cohen zu.
Unwillkürlich stolperte Cohen einen Schritt zurück, wobei er weniger über etwas am Boden stolperte, als viel mehr über das Chaos in seinem Kopf.
»Hör auf damit!«, herrschte Bellzazar ihn an. »Was auch immer durch deinen weinerlichen Verstand geht, hör auf, dich da hineinzusteigern, sonst wirst du zu einem von denen!«
Cohen bekam zu allem Überfluss auch noch Panik. Denn er wollte sich nicht auflösen, er wollte nicht nur ein Schemen sein. Doch die Furcht davor half ihm überhaupt nicht, sie verschlimmerte sein Gefühl, bedeutungslos zu sein.
Er erwartete eine Ohrfeige, als Bellzazar vor ihm zum Stehen kam, oder zumindest eine herablassende Schimpftriade, weil Cohen untätig wie ein eingeschüchtertes Kleinkind mitten im Wald stand und seine Gedanken nicht sammeln konnte.
Doch als Bellzazar eine Hand ausstreckte, landete sie nicht in Cohens Gesicht, sondern auf seiner Schulter. Er zuckte zusammen, doch Bellzazar ignorierte es.
Cohen konnte die Hand fühlen. Auf seiner Schulter. Es war das einzige Gefühl, das ihn äußerlich erreichen konnte. Sein Unterbewusstsein klammerte sich umgehend daran, konzentrierte sich nur auf die zarte, feingliedrige Hand, als ob sie ihn, solange sie ihn nur festhielt, davon abhalten konnte, verrückt zu werden und sich aufzulösen. Bellzazars Griff war wie ein Anker, da es das erste und einzige Gefühl war, das sich noch genauso anfühlte wie im Leben. Einfach wahrhaftig. Bellzazar hielt mit seiner Hand vielmehr Cohens Gedanken fest, und weniger seine Schulter.
Mit geweiteten und ruhelosen Augen, die von seiner Verwirrung zeugten, starrte Cohen den Fürsten der Unterwelt an. Doch statt Cohen einen metaphorischen Arschtritt zu verpassen, atmete Bellzazar tief durch, beugte sich ein Stück hinab, damit sie auf Augenhöhe waren, und betrachtete Cohen doch tatsächlich mit einer Spur Mitgefühl. Ein azurblaues Schimmern trat in seine schwarzen Augen, als er tröstend Cohens Schulter drückte.
»Wir bekommen das wieder hin, hm?« Er schenkte Cohen so etwas wie ein aufmunterndes Lächeln, wobei es bei ihm mehr nach einem fiesen Grinsen aussah, hätten seine Augen nicht warm gefunkelt.
Diese Wankelmütigkeit zwischen arrogantem Arschloch und mitfühlendem Wesen hatte Cohen schon immer gegruselt, weil er Bellzazar dadurch nie richtig einschätzen konnte. War er gut? War er böse? War er nur ein Idiot? Cohen wusste es nicht. Manchmal könnte er ihn erwürgen – und es gab viele gute Gründe, ihn zu hassen – aber manchmal brachte Bellzazar ihn auch dazu, dass er ihn … irgendwie … verstand. So absurd es auch klang.
»Kein Grund zur Sorge«, beruhigte Bellzazar ihn, »ich glaube, ich weiß, was ich tun muss. Vertraust du mir?«
Cohen verzog dennoch das Gesicht und wandte sich zweifelnd in Bellzazars Griff. »Willst du darauf eine ehrliche Antwort?«
Bellzazar ließ die Schultern hängen. »Seit wann bist du so witzig?«, konterte er sarkastisch.
Verärgert presste Cohen die Lippen zusammen, aber immerhin lenkte ihn sein Missfallen von seinem Gedankenstrudel ab. Und von der Tatsache, dass er ein verdammter Geist war.
»Und nur zu deiner Information, ich habe unsere Welt gerettet!«
Cohen sah ihn entgeistert an. »Du hättest sie beinahe in Schutt und Asche gelegt!«
»Aber nicht zerstört!«, hielt Bellzazar dagegen. »Sie wäre erneuert worden. Aber auch das habe ich abwenden können. Also schluck deine Moralpredigt einfach runter, ja? Du bist auch kein unschuldiges, reines Wesen.«
Ja, dachte Cohen ernüchtert, da war er wieder. Der Moment, der den vorherigen zerstörte. Nur Bellzazar vermochte es, sich innerhalb eines Wimpernschlags wieder unbeliebt zu machen.
Cohen konnte seine berechnende Logik noch nie leiden.
»Pass auf, hör zu!«, Bellzazar packte ihn am Arm und zog ihn wieder hinter den Baum, dicht an den Stamm, dann spähte er um ihr Versteck herum und beobachtete den silbernen Riss. »Die Erscheinungen haben es ohnehin nur auf mich abgesehen. Ich werde gleich darüber rennen« - er zeigte auf einen anderen Baum, schräg hinter ihnen in Richtung Süden, etwa vierzig Schritte entfernt - »und sie auf mich ziehen. Dann rennst du los und springst in den Riss.«
Cohen spähte um den Baum herum, es kam eine neue Scharr Schemen heraus. »Bin ich dann am richtigen Ort?«
»Ja, keine Sorge«, versicherte Bellzazar. »Diese Schemen kommen aus dem Schleier, aus der Zwischenwelt. Du wirst sie nicht durchschreiten, sondern wie beim ersten Mal überspringen, dein Geist – du – bist an die Welt gebunden, die ich für euch erschaffen habe. Sorge dich nicht, du wirst dahin zurückkehren, wenn du durch diesen Riss gehst.«
Cohen betrachtete ihn überlegend. »Und was ist mit dir?«
Grinsend hielt Bellzazar den Kopf schief. »Sag nicht, du sorgst dich!«
»Um dich?« Cohen schnaubte. »Nein. Aber wenn dir etwas zustößt…«
Er musste es nicht aussprechen, Bellzazar verstand sehr gut. Seine Miene wurde hart. »Ja«, brummte er, »ist mir bewusst, und mir steht nicht der Sinn danach, mich vernichten zu lassen.« Er seufzte und zuckte mit den Achseln. »Irgendetwas hat dieses Portal – diesen Riss verursacht. Ich kann es spüren, die Magie in der Außenschicht unserer Welt ist rissig, sie wird von etwas gestört. Deshalb auch das Beben. Wir haben es mit unkontrollierter Macht zu tun. Und es ist nicht meine Magie, sei versichert, ich bin zu schwach.« Als er das sagte, musterte Cohen ihn unwillkürlich erneut, deutlicher dieses Mal, und nahm nun auch wahr, dass Bellzazar um einiges dünner geworden war, beinahe hager. »Ich muss das Ding schließen, um die Umgebung wieder zu stabilisieren, aber es ist … stark.«
Cohen schüttelte ratlos den Kopf. »Was heißt das?«
»Na ja«, Bellzazar sah ihm in die Augen, »dass ich hier besser alles säubere, bevor ich das Ding schließe, denn danach werde ich wieder eine Weile meiner Macht beraubt sein.«
»Was?« Cohen spürte ein unbehagliches Ziehen im Magen, und sein Bauchgefühl hatte ihn noch nie getäuscht. »Dann bist du schwach und deiner Umwelt wehrlos ausgeliefert. Allein. Ohne Hilfe.«
Und jeder, der ihn dann fand, ob Tier oder Zweibeiner, konnte ihn und damit auch den König von Nohva vernichten.
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