1 ...7 8 9 11 12 13 ...31 Cohen blinzelte, ihm rauchte der Kopf. Vorsichtig spähte er um den Baum herum und sah ein weiteres Dutzend Schemen auf sie zu schweben.
Er schüttelte den Kopf: »Ich glaube nicht, dass ich mich jetzt genug konzentrieren kann, um mir Waffen vorzustellen.«
Bellzazar stieß ein Stöhnen aus, als wollte er Cohen am liebsten eine Ohrfeige verpassen. Genau das hätte er vermutlich auch getan, wäre Cohen in seiner Reichweite gewesen. »Das ist dein Problem! Hör auf, dich auf diese Sache zu konzentrieren. Du sollst es nicht zerdenken, du musst es fühlen. Hör auf zu denken, Mann. Hör auf zu denken.«
Leichter gesagt als getan. Cohen konnte doch nicht einfach waffenlos in den Kampf rennen und darauf hoffen, dass auf magische Weise ein Bogen in seiner Hand erschien. Das war absurd, das war …
»Die Tatsache, dass du dich nicht bewegst und deine Miene zuckt, als würdest du auf einem Stück alter Schuhsohle kauen, lässt mich vermuten, dass du gerade genau das Gegenteil von dem tust, was ich dir gesagt habe!«, murrte Bellzazar. Er seufzte und setzte hinterher: »Wenn du nicht daran glaubst und nur daran denkst, dass du keine Waffen hast, dir aber verzweifelst welche wünschst, dann wird sich daran auch nichts ändern. Du stehst dir nur selbst im Weg, wie immer.«
Cohen fuhr wütend zu ihm herum. Die Schemen hatten sie bereits erreicht, glitten, ohne zu zögern, an Cohen vorbei und strömten in Bellzazars Richtung, als könnten sie ihn wittern. Der Gott der Toten und Fürst der Unterwelt kämpfte bereits wieder.
»Wie wäre es, wenn du mir einfach eine deiner Waffen gibst!«, herrschte Cohen ihn wütend an.
Warum musste er es immer so kompliziert machen, warum konnte er Cohen nicht einfach einen Dolch zuwerfen? Hinterher wäre immer noch Zeit, alles andere auszudiskutieren.
Aber nein, er musste ja stets einen Irrweg nehmen, statt einfach die offensichtlichste und einfachste Lösung anzugehen…
Bellzazar starrte ihn einen Moment lang an, nachdem er den ersten Ansturm abgewehrt hatte und kurz verschnaufen konnte. Er schien sprachlos gegenüber Cohens … Dummheit, wie es schien.
Kopfschüttelnd stieß er einen humorlosen Laut aus, der beinahe wie ein Lachen klang. Dann zuckte er mit den Schultern. »Wie du willst.« Und zog einen Dolch aus seinem schwarzen Stiefelschaft, den er sogleich in Cohens Richtung schleuderte.
Geht doch , dachte Cohen und wollte den Dolch auffangen, als er einfach durch seine Hände glitt und zwischen seinen Füßen aufkam. Cohen hatte nicht einmal gespürt, dass die Waffe ihn berührt hatte. Verwirrt starrte er auf den Dolch, der nun vor ihm im leuchtend grünen Moos lag.
»Wo kämen wir denn da hin«, höhnte Bellzazar eine Spur zu triumphierend, »wenn es Geistern erlaubt wäre, echte Waffen zu bewegen.«
Cohen schielte ärgerlich zu ihm hinüber und wünschte, er besäße die Gabe, Blitze aus seinen Augen zucken zu lassen, um diesem arroganten Arsch das fiese Grinsen aus dem Gesicht zu wischen.
»Narr! Du bist ein Geist, du brauchst Geisterwaffen, deine eigenen Waffen, bestehend aus dem Gefühl deiner Erinnerungen«, tadelte Bellzazar ihn, während er zwischenzeitlich seine Angreifer abwehrte und dabei allmählich tatsächlich ins Schwitzen kam. Seine Stimme stockte, er keuchte zwischendurch schwer. »Nichts in dieser Welt ist für dich noch greifbar oder fühlbar. Oder spürst du den Wind um uns herum, die Wärme der Sonne, den Boden unter dir…?«
Cohen blinzelte hinab auf seine Stiefel und trat verwundert einen Schritt zurück. Er konnte nicht begreifen, wie das möglich war, aber seine Stiefel machten auf dem Waldboden keinerlei Abdrücke. Das Moos, auf dem er stand, war unberührt wie die junge Knospe einer frisch erblühten Rose. Wie die frühmorgendliche Schneedecke nach dem ersten Schneefall in der Nacht, wenn noch niemand darüber gelaufen ist. Seine Füße hinterließen keine Spuren mehr, er besaß kein Gewicht in dieser Welt. Und da spürte er es auch: Nichts. Er spürte nichts. Weder Kälte noch Wärme, weder den Wind auf seinen Wangen, noch die Feuchtigkeit aus den Blättern. Er konnte Gerüche wahrnehmen, er konnte sehen und hören, aber nichts fühlen. Rein gar nichts. Als würde er in einem Traum feststecken, den er ganz bewusst wahrnahm, in dem er handeln und frei denken konnte, aber eben nichts fühlte, wie es für das Schlafbewusstsein üblich war.
Doch er träumte nicht, er spürte schlicht nichts mehr. Ein seltsames Gefühl, irgendwie war es ihm, als sei er selbst unwirklich.
Er verstand mehr denn je, was diese Schemen verrückt gemacht hatte. Wenn er zu sehr darüber nachdächte, was er nun war, würde er regelrecht hysterisch werden, weshalb er in seinem Kopf das Tor zu diesen Gedanken zuschlug und fest verriegelte.
Es beruhigte ihn jedoch, eine gänzlich menschliche Hand zu sehen, als er sie hob und darauf starrte. Für sich selbst sah er ganz … fest aus. Existierend. Kein bisschen durchsichtig. Normal eben, menschlich, wie er einst war.
Ob andere ihn so sahen, wie er sich selbst sah, wusste er nicht und er verbot es sich, darüber nachzudenken, da er sich selbst kannte und sich wohlmöglich in dieses Dilemma zu sehr hineingesteigert hätte.
Er musste nur zurück in die Welt, die Bellzazar für ihn und die anderen gefallenen Gefährten des Blutdrachen erschaffen hatte, um die Ewigkeit sorglos zu genießen. Dann würde dieser Schrecken vom heutigen Tage in Vergessenheit geraten, nicht mehr als eine vage Erinnerung sein. Genau wie all die anderen Schrecken vergangener Gezeiten.
Genau, er musste sich nur darauf konzentrieren, wieder zurückzukehren in die friedliche Ewigkeit nach dem Leben, wo er sich ganz und gar auf seine innere Ruhe konzentrieren konnte und seine ganze Existenz auf eine Art Traumbewusstsein schrumpfte. Frieden, Geborgenheit, Liebe und das Warten auf den Tag, wenn auch Desiderius zu ihm stieß. Nicht, dass er den Tod seines Geliebten herbeisehnte, aber das Warten darauf schenkte ihm die Sorglosigkeit, die ihm im Leben gefehlt hatte.
Sorglosigkeit. Ein Gefühl, von dem er sich gerade wahrlich verabschieden konnte. Er war kaum einen Atemzug lang zurück in der Welt der Sterblichen und hatte bereits tausend Ängste und kummervolle Gedanken, die unaufhaltsam auf ihn einströmten und ihn plagten. Zum ersten Mal wurde ihm so richtig bewusst, wie sehr er das Leben verabscheut hatte. Es hatte für ihn selten etwas Gutes bereitgehalten. Geboren als Sohn eines Verräters, immer im Zwiespalt mit sich selbst. Cohen war nie ein Mann gewesen, der auffiel, wenn er den Raum betrat, ihn hatte immer eine gewisse Melancholie umgeben, die andere abgeschreckt hatte. Bellzazar würde ihn wohl schlicht weinerlich nennen. Vielleicht stimmte das, Cohen wusste es nicht, er war froh darum gewesen, dass die Menschen ihm nicht nacheiferten, er fürchtete sich vor zu viel Aufmerksamkeit, seit … seit dieser Sache in seiner Jugend, als sich ein vermeintlicher Freund als Feind herausgestellt hatte. Cohen war in Verrat, Niedertracht und Bosheit großgeworden. In einer finsteren Welt voller Tyrannei, auf der Seite der Schlächter, während er selbst nicht dazu gemacht war, berechnend zu sein. Er war im Krieg aufgewachsen, hatte Mutter und alle Brüder dadurch verloren. Erst als er entschlossen hatte, sich gegen seinen Vater zu stellen und an Desiderius` Seite mit dem Widerstand zu kämpfen, hatte er ein wenig Glück im Leben erfahren. Mehr sogar, er hatte die Dämonen aus seiner Vergangenheit besiegt. Die eingebildeten und die echten. Er hatte Liebe empfangen, er hatte das Band der Brüderlichkeit gespürt, die Geburt seines Erstgeborenen miterlebt und – dann erfahren, dass er unheilbar krank war. Er hatte zugesehen, wie der totgeglaubte Prinz Nohvas zurückkehrte – und Desiderius ihn für diesen wieder verließ.
Wenn er sein ganzes Leben so nüchtern betrachtete, war es lediglich eine Aneinanderreihung von harten Schicksalsschlägen gewesen. Und der Tod war eine Gnade für ihn, die ihm gerade wieder entzogen worden ist.
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