1 ...6 7 8 10 11 12 ...31 »Erscheinungen. Schemen«, rief Bellzazar rechts von ihm. Er hatte sein Schwert in der Hand, einen Zweihänder mit dünner, gewellter Klinge aus schwarzem Stahl. Runen waren in die Klinge hineingeritzt und leuchteten feuerrot auf, wenn sie durch die Erscheinungen glitten.
Das Unterweltschwert namens Flammberge.
»Verirrte Geister. Sie haben keine Erinnerungen mehr, sie sind schon zu lange tot und im Schleier verdorben. Sie kommen aus dem Portal, diese Welt macht sie verrückt!«
Cohen hechtete hinter einen Baum und drückte den Rücken dagegen. Drei dieser Schemen zogen an ihm vorüber, tiefer in den dichten Wald, unter dessen dichten Blätterdächern kaum die Sonne durchdrang und Zwielicht herrschte. Er kam sich wie in einem natürlichen Dom unter einem grünen Kuppeldach vor. Es war halbdunkel und roch nach feuchter Erde, während das Beben im Boden die Blätter wie im Sturm rascheln ließ.
Die Erscheinungen waren nicht mehr als Schatten. Sie besaßen keine Gesichter, nicht einmal Konturen, ihre Linien verwischten wie Farbe auf einer wässrigen Leinwand. Sie hatten keine Tiefe, sie waren wie schwarze Wolken, die ansatzweise die Form eines Mannes angenommen hatten. Arme, Schultern und Köpfe waren lediglich angedeutet, ihre Form schien zu rauchen. Sie gaben keine Geräusche von sich, sie hatten keine Beschaffenheit, glitten einfach durch alles hindurch. Nur das Schwert, Flammberge, konnte sie bremsen.
Cohen sah zu Bellzazar hinüber, der die verirrten Erscheinungen, ohne zu zögern, ohne Gnade mit der Klinge streifte, als würde er sie vom Bauchnabel bis zum Hals aufschlitzen, woraufhin sie sich auflösten. Sie verpufften einfach und verflüchtigten sich wie kühler Nebel im Wind.
»Willst du ihnen nicht helfen, zurückzufinden?«
»Sie sind doch schon verloren«, rief Bellzazar zurück, die Zähne zusammengebissen und gebleckt, wie er es stets im Kampf getan hatte. Das kurze, schwarze Haar, das dem seines Bruders zum Verwechseln ähnlichsah, kitzelte ihn keck in der Stirn. »Fallobst kann man nicht mehr retten.«
Fallobst? Für den Gott der Toten war er ja schon immer recht herzlos gewesen. Aber vielleicht musste er das auch sein. Cohen wusste es nicht, er verbot es sich, in diesem Moment zu denken. Vor allem würde er sich über nichts in Bezug auf Bellzazar Gedanken machen, sonst würde er ihn vermutlich von hinten anspringen und solange auf ihn einprügeln, bis zwei oder drei neue Zeitalter angebrochen waren.
Doch irgendetwas in seinem Inneren sagte ihm, dass sie dazu keine Zeit hatten. Das ungute Gefühl in seinem Magen rührte nicht zuletzt von dem stetigen Erdbeben und den herumstreifenden Erscheinungen her.
»Es wäre dir zu danken«, meinte Bellzazar ironisch wie eh und je, »würdest du deinen knochigen Arsch bewegen und mir helfen.«
Cohen überlegte, ob es nicht klug wäre, ihn sterben zu lassen. Aber wer sollte ihn dann zurückbringen? Nur der Gott der Toten vermochte die Portale in die Nachwelt zu öffnen und zu schließen. Und er hatte eine leise Ahnung, dass es auch nur Bellzazar gelingen würde, diesen silbernen Riss zu schließen, der sich wie ein eingefrorener Blitz direkt unter den Baumkronen befand und sich bis unter den Erdboden zog. Wie ein blattloser silberner Baum. Aber am wichtigsten war: er konnte Bellzazar nicht töten, denn dieser war mit Desiderius verbunden. Wenn Bellzazar etwas zustieß, würde auch der König von Nohva, Cohens einstiger Geliebter, sterben.
Ihm waren die Hände durch die dicksten und stärksten Ketten gebunden. Durch die Liebe, die er einst für dessen Bruder empfunden hatte, immer noch empfand und immer empfinden würde.
Es gab für Cohen viele Gründe, Bellzazar zu verabscheuen, aber er würde ihm dennoch nie ein Haar krümmen.
Was für ein Dilemma.
Nun, vielleicht würde ihm eine Tracht Prügel trotzdem guttun. Vorausgesetzt, sie schafften es, diese dutzenden von Schemen davon abzuhalten, sie mit ihren schattenhaften Klingen zu durchbohren.
Was ihn zu einem weiteren Gedanken führte…
»Ich habe keine Waffen!«, rief Cohen zurück. Er hob ratlos die Schultern und schüttelte den Kopf, als Bellzazar zu ihm blickte.
Bellzazar legte den Kopf schief und sah ihn an, als hielte er ihn für bescheuert. »Du bist ein Geist!«, meinte er abfällig dazu, als würde diese Tatsache alle weiteren Erklärungen erübrigen.
Cohen zog sich bei der Bezeichnung der Magen zusammen, doch er konnte sich selbst nicht erklären, was ihm daran Übelkeit bereitete.
Ein Geist. Er war ein Geist und irgendwie kurzzeitig zurück in der Welt der Sterblichen.
Er wollte gar nicht hier sein.
Während er zusah, wie Bellzazar fluchend die Schattierungen der anderen Verirrten durchstach und sie sich dadurch auflösten, wuchs sein Unbehagen. Wie weit war er davon entfernt, auch als Schatten zu enden? Nicht mehr als eine Erscheinung zu sein? Er wusste es nicht, doch er spürte beinahe, wie die Zeit an ihm zerrte. Er musste zurück, das konnte er spüren. Bedrohlich hing diese Gewissheit über seinem Kopf, wie ein Richtbeil, das bald fallen würde.
»Verfluchte, verflixte Götter, verdammte Scheißkerle«, murrte Bellzazar und drehte Pirouetten, um die Erscheinungen zu vernichten, die einen engen Kreis um ihn zogen. »Verzieht euch endlich. Ich habe nichts für euch!«
Der Unterweltfürst zog die Schemen geradezu an, während sie an Cohen lediglich vorbeizogen. Vielleicht bemerkten sie Cohen nicht.
Aber Bellzazar war für sie wie die Sonne in der Dunkelheit. Mit dem Unterschied, dass sie ihn zu töten versuchten, als verabscheuten sie das Licht und wollten es erlöschen lassen.
Es war, als hätten sie nur einen Gedanken: Bellzazar zu vernichten. Als ob sie nur von diesem Drang geleitet wurden, wie Sklaven, denen ein Auftrag erteilt wurde. Cohen runzelte nachdenklich seine Stirn. Irgendetwas stimmte hier nicht.
Schnaubend drehte Bellzazar sich einmal um sich selbst, nachdem er seine hartnäckigen Angreifer allesamt in Nichts aufgelöst hatte. Er hatte sich kaum verändert, war noch immer groß und trug dasselbe schwarze Hemd samt schwarzer Lederhose unter einem schwarzen, dicken Wollumhang, wie damals, als Cohen ihn zuletzt gesehen hatte.
Na ja, zuletzt in dieser Gestalt gesehen hatte, dachte er grimmig. Aber er verscheuchte die Erinnerungen an die Nacht, als Bellzazar ein anderes Gesicht getragen hatte, um ihn hereinzulegen. Denn wenn er daran zurückdächte, wäre er auf jeden Fall auf ihn losgegangen.
Es schien, als müsste Bellzazar sich zuerst wieder orientieren. Als müsste er Cohen im Wald erneut suchen. Seine Augenbrauen zuckten unter seinen dunklen Strähnen nach oben, als er ihn wiederfand. Er schien überrascht, dass Cohen noch immer untätig war, seine Augen wurden dunkel und blitzten ärgerlich auf.
»Noch mal: du bist ein Geist«, rief er genervt durch den Wald, »du brauchst dich nur an das Gefühl deiner Waffen in deiner Hand zu erinnern. Du bestehst nur aus Erinnerungen, verstehst du?«
»Natürlich!«, keifte Cohen zurück. Aber eigentlich verstand er überhaupt nichts.
Bellzazar schien ihn zu durchschauen, er verdrehte ungeduldig die schwarzen Augen. »Du bist in diesem Moment nichts als eine Erinnerung. Du hängst so sehr an deinem alten Leben, dass du diese Form angenommen hast. Ebenso verhält es sich mit allem anderen. Dein Auge ist weg, weil du dich daran erinnerst, wie es sich anfühlt, nur auf einem Auge zu sehen. Deine Lederweste sitzt eng, weil du dich daran erinnerst. Dein Haar hat die gleiche Länge wie bei deinem Tod, weil du dich daran erinnerst. Und so weiter. Nichts von dem ist wirklich … manifest. Es ist nicht echt, nicht wirklich. Du bist nicht … fest , alles an dir passt sich deiner Erinnerung an. Genauso ist es mit Waffen. Erinnere dich einfach an das Gefühl, sie zu führen, und sie werden da sein. Nenn es Magie, wenn du so willst. Denk einfach daran, wie du zu Lebzeiten in den Kampf gestürmt bist. Erinnere dich an die Schwere deines Bogens. Glaub daran, dass er da ist.«
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